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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Magnesium. Vor den offenen Garagentoren des Geräteraums war ein Stativ aufgebaut und trug eine Digitalkamera, die erheblich größer war als die von letzter Woche. Auf dem Rand der obersten Matte saß Ada, barfuß, in Laufhose und T-Shirt, drückte eine tiefe Mulde in das Schaumstoffmaterial und zog fröstelnd die Schultern hoch. Keine noch so gute Heizung konnte die große Halle auf wohnliche Temperaturen bringen. Smutek stand wie angewurzelt auf der südlichen Drei-Punkte-Linie.
    »Tritt näher«, sagte Alev. »Willst du sie ausziehen, oder soll sie das selber machen?«
    Smutek wusste keine Antwort. Was auch immer sie mit ihm vorhatten, er konnte nicht. Es würde schief laufen. Ada mit ihren verkrampften Schultern und den zusammengepressten Knien sah aus wie ein Heimkind, das am Sonntag wieder keinen Besuch bekommen hat. Smutek hatte Angst. Er kannte den Geruch der großen Matten im Voraus, wusste um das Gefühl von Gummimaterial auf nackter Haut, und infolge des Begriffs >Gummi< ergaben sich ein paar zusätzliche, unangenehme Überlegungen, die er bisher noch nicht angestrengt hatte. Alev stand in krummer Haltung und mit gespreizten Beinen wie sein Stativ, blickte abwechselnd durch den Sucher und auf das kleine Display und drehte an der Schärfe.
    »Komm, spiel mit uns«, rief er fröhlich, und plötzlich gehorchten Smuteks Füße wie zwei winzige, gut gedrillte Dressurpferde, die sich auf den ersten Peitschenknall zum Pas de deux zusammenfinden. Er trat hinter Alev und sah eine Miniatur-Ada auf dem Display kauern.
    »Was willst du von mir?«
    Ungeduldig schaute Alev auf. Natürlich wussten beide, wie die Frage gemeint war. Ein einziges der bereits geschossenen Bilder hätte ausgereicht, um die Erpressung bis ans Ende aller Tage aufrechtzuerhalten. Was nun passieren sollte, war nicht mehr Mittel, sondern bereits Zweck.
    »Nichts, was du nicht selber wollen würdest.« Alev schickte einen Blick hinterher, der klar machte, dass er sich nicht auf einen dramatischen Dialog einlassen würde wie ein Kinomörder vor der Tat. »Geh und sag Ada guten Tag.«
    Smuteks Füße bockten, er bewegte sich nicht von der Stelle. Als er ein Ziehen in der Magengrube verspürte, hoffte er, es könnte ihm übel werden, und dachte konzentriert an den Geruch von Erbrochenem. Wenn er kotzend über der Kloschüssel hinge, würden sie ihn bestimmt freigeben. Aber der Schwindel ging spurlos vorüber. Ihm war nicht schlecht, er war traurig. Ganz deutlich sah er das Gesicht seiner Frau, die er liebte und die ihm mit all ihren Launen als einziger Mensch auf dem Planeten etwas bedeutete. Sie war schön, und Hässliches, wie Smutek es gerade erlebte, musste sie früher oder später zerstören. Dann fiel Höfi ihm ein, und er wurde noch trauriger, weil Höfi am Verlust einer Frau sogar gestorben und weil er der letzte Mensch gewesen war, der hätte verhindern können, was hier geschah. Höfi hatte den letzten Rest Anstand und Ordnung mit aus der Welt genommen. Ohne Höfi regierte der Dschungel. Ohne ihn gab es keine Rettung. Smutek hätte am liebsten geheult und ekelte sich zugleich vor der eigenen Wehleidigkeit. Er stand kurz vor einem geistigen Schwächeanfall. Alev richtete sich auf, reichte ihm bis zur Brust und arbeitete dennoch daran, auf ihn hinunterzuschauen.
    »Nichts ist mir mehr zuwider als drastische Deutlichkeit«, sagte er, »aber die Sonne steht schräg, und es bleibt nicht viel Zeit zum Photographieren. Pass auf: Was wir gegen dich in der Hand haben, ist fast so viel wert wie ein entführter Sohn. Der Fall ist so gelagert, dass du schlicht zu tun hast, was wir von dir verlangen. Ende des Diskurses.«
    »Was ihr von mir verlangt?«, fragte Smutek, vernahm einen hysterischen Beiklang in der eigenen Stimme und atmete tief durch, bevor er weitersprach. »Verlangt sie es auch?«
    Beide schauten zu Ada hinüber. Erstaunlich, wie lang ihre Haare im Lauf des Schuljahres geworden waren. Wie blutleer die Haut im Licht der Glasbausteine wirkte. Wie viel Hilflosigkeit ihre kräftige Gestalt ausstrahlen konnte, wenn sie den Körper so hängen ließ.
    »Sie verlangt es auch«, sagte Alev.
    »Ada?« Die Wände gaben den Namen zurück wie etwas, das sie nicht behalten wollten. Die Angesprochene hob die Hand, nickte, lachte und winkte Smutek zu, als befände er sich hundert Meter entfernt am anderen Ufer eines Flusses. Als er vor ihr stand, bohrte ihr Blick sich in seine Kniescheiben, kroch ihm die Beine hinauf, unter der Kleidung über Lenden,

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