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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Aufkeimen dieses Willens erleben, er wird wachsen und sich dem Druck entgegenstemmen.«
    »Oder zerbrechen.«
    »Das glaube ich nicht. Er bekommt eine Chance zur Menschwerdung, und somit sind wir - sein Schöpfer. Beziehungsweise ...«
    »... der Teufel, ich weiß.«
    »Sagen wir: sein Prometheus. Habe ich deine Frage beantwortet?«
    »Nein.«
    »Es gibt zwei Antworten. Erstens: Auch nach den gängigen Moralvorstellungen, mit denen sich heutzutage niemand mehr auskennt, kann es nicht problematisch sein, einen Menschen zu seinem Glück zu zwingen. Die Moral zwingt selbst, um dem Menschen zu Selbständigkeit und Freiheit zu verhelfen. Zweitens: Der Schöpfer ist kein moralisches Wesen. Er ist erhaben über Recht und Unrecht.«
    »Gott ist Jurist. Er schafft Regeln und überlässt ihre Umsetzung den anderen.«
    »Netter Aphorismus. Schreib ihn auf.«
    »Vorsicht!«
    Hinter der Wand war die Musik verstummt, und in der plötzlichen Stille erzeugten das Pochen der Heizung, Tastengeklicker, Atemgeräusche und das Quietschen der Stühle einen grotesken Krawall. Der erste Schüler nahm die Kopfhörer ab und schob sich eine Hand voll fettiger Haarsträhnen aus der Stirn. Wenn die Ohren ihre Probe beendeten, würde auch der Computerraum in Kürze geschlossen werden. Um achtzehn Uhr kamen alle Aktivitäten auf Ernst-Bloch zum Erliegen. Das gemeinsame Abendessen der Internatsschüler war Pflicht.
    Mit flinken Fingern verschickte Alev eine elektronische Nachricht an Smutek und löschte die erstellten Dateien und Verzeichnisse von der Festplatte. Alles, was es zu bewahren galt, lag sicher auf dem Server der Schule. Angebissene Pausenbrote, Notizblöcke und CDs wanderten zurück in die Taschen, Erichs Händeklatschen trieb sie an, die Rechner herunterzufahren. Hinter Ada und Alev schloss er die Tür.
    »Schweineschnitzel und Pommes«, sagte Erich zu Alev, »aber ich glaube, die Küche hat extra für dich ein muslimisches Huhn in die Röhre geschoben.«
    »Beziehungen zu den Zentren der Macht sind alles«, sagte Alev. »Reicht das Huhn auch für zwei?«
    »Schon gut«, sagte Ada, die ihren Rucksack an einem Riemen schlenkerte. »Ich gehe noch laufen.«
    Alev schlug ihr kräftig auf die Schulter, als hätte sie an diesem Nachmittag ein Tor geschossen, das die Mannschaft dem entscheidenden Sieg ein Stück näher brachte, und ging neben Erich den hallenden Betonschacht entlang. Die Ledersohlen der Männer klapperten wie Hufe über roh gegossene Stufen und überdeckten den weichen Gummischritt von Adas Schuhen, so dass sie unhörbar wie ein Geist um die Ecke des Gebäudes verschwunden war, bevor sich jemand nach ihr umdrehen konnte.
    Während Ada nach dem Laufen zwischen Granitbrocken im Dunkeln hockte und sich das Gesicht so heftig mit Rheinwasser rieb, als wollte sie Augen, Nase und Ohren herunterwaschen und mit dem nach Chemie und Hochwasser duftenden Fluss Richtung Nordsee verschicken, prüfte Smutek am Heimcomputer seinen Posteingang. Er rechnete mit einem Brief, mit Forderungen oder ersten Scherzen, fand aber nur eine Internetanschrift, die unter www.ernstbloch.de/ReadMe/ReadMe.doc auf der Homepage der Schule angesiedelt war. Darunter war ein Kennwort angegeben: SPIELTRIEB. Smutek stand auf, drehte den Schlüssel an der Arbeitszimmertür und fütterte den Browser mit der angegebenen Adresse. Als Word sich automatisch öffnete, fröstelte Smutek. Für ihn war der Computer nie mehr als eine elektrische Schreibmaschine gewesen. Er wurde nach dem Kennwort gefragt. Nachdem er die Photos betrachtet hatte, onanierte er in ein gebrauchtes T-Shirt, weinte anschließend lautlos mit rüttelnden Schultern und vors Gesicht geschlagenen Händen und ging zu Bett. Ab jetzt konnte jeder Mensch auf dem Planeten, der in den Besitz eines einfachen Codeworts gelangte, den Internetauftritt einer angesehenen Privatschule besuchen und sich eine kompromittierende Photoserie anschauen, deren unglücklicher Hauptdarsteller er selber war. Smutek schlief acht Stunden traumlos und schwer, einen Verwesungsgeruch ausströmend, dessen Reste sich am Morgen in den Laken fanden. Das Spiel hatte begonnen.
    Aber sie wollen ihn selbst
    M ehrmals täglich befragte er sein Mailkonto nach neu eingegangenen Nachrichten. Vergeblich. Zwei Tage später fand er etwas, mit dem er nach einem solchen Auftakt nicht gerechnet hätte. Oben in seiner Sporttasche lag ein konventioneller Zettel.
    Alev gehörte zu jenen Globalisierungs-Legasthenikern, die von Kindesbeinen an fünf

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