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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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war unüberschaubar, Smutek war im Zoo zwischen Gottes Monsterzüchtungen ein kleiner Fisch. Für jedermann befand sich die Schwelle zur Hölle an dem Punkt, an dem er begann, mit dem Kopf gegen die Gitterstäbe zu schlagen. Smutek hatte nicht vor, in Panik zu verfallen. Nur wenn er lang vor dem Klingeln des Weckers erwachte, sich zunächst freute über die verbleibenden Mengen an rot leuchtender Digitalzeit, schließlich jedoch von ungebetenen Ideen überfallen wurde, die ihm termitengleich in Herz und Hirn krochen, stand er zittrig zwischen den Wohnzimmerfenstern und legte beide Hände flach gegen die Mauer, um sich beim Schlagen mit dem Kopf die Stirn nicht ernsthaft zu verletzen.
    Ansonsten war er bei Verstand. Schule, Wohnung, Auto, Frau funktionierten nicht nur wie immer, sondern besser denn je. Smutek kam sich vor wie ein Mann, der nach dem Ablegen von Anzug, Hemd und Schuhen feststellen muss, dass jene auch ohne ihn ihren gewohnten Beschäftigungen nachgehen, mit überkreuzten Beinen am Schreibtisch sitzen, den Computer bedienen oder einen Drink mixen, ohne die Abwesenheit ihres Besitzers zur Kenntnis zu nehmen.
    Inzwischen nutzte eine Grippe die Gelegenheit, sich der geschwächten Frau Smutek zu bemächtigen. Geschwollene Mandeln, wunde Bronchien und verstopfte Nebenhöhle drängten die Depression an den Rand des Schlachtfelds und gerieten ihrerseits unter dem Einsatz pharmazeutischer Massenvernichtungswaffen ins Wanken. Als der Kampf gewonnen und alle Viren getötet oder vertrieben waren, erhob sich Frau Smutek von ihrem Lager. Sie war nicht Ganz-die-Alte und nicht Wieneugeboren. Sie war irgendein Mensch, der sich von einer Krankheit erholte und aufgrund einer Verkettung von Umständen, deren Entwirrung nicht mehr gelang, in bestimmten Zimmern lebte, die gemeinsam eine Wohnung ergaben. Im Treppenhaus standen frisch gesetzte Hyazinthen auf der Fensterbank, wurden jede Nacht einen Zentimeter höher, sprengten ihre fleischigen Knospen und erfüllten alle Stockwerke mit einem penetrant süßlichen Geruch. Die Verwandlung seiner Frau sah Smutek mit ähnlichem Erstaunen wie dieses Schauspiel. Zwei Wochen später ging sie wieder zur Arbeit, stach mit großen Spritzen in kleine Mäuse, um etwas Flüssigkeit aus ihnen zu saugen, und kehrte jeden Mittag nach Hause zurück.
    Wie häufig, zeigte sich die Größe der Veränderung an Kleinigkeiten. Wenn Frau Smutek sich in der Küche beschäftigte oder die Straße betrachtete, auf der gewöhnliche Leute ihren scheinbar gewöhnlichen und doch unendlich geheimnisvollen Beschäftigungen nachgingen, sang sie leise vor sich hin. Etwas Derartiges hätte sie sich früher nie erlaubt. Als der Nervenarzt, den sie zweimal in der Woche aufsuchte, um sich vom Sinn des Lebens überzeugen zu lassen, sie beim Summen einer selbst erfundenen Melodie ertappte, geriet er in Begeisterung wie über das erste Lebenszeichen aus einem verschlossenen Turm, an dessen Mauern er seit längerem mit professioneller Hartnäckigkeit klopfte. Seiner Diagnose nach hatte Frau Smutek durch ihr dumpfes Brüten die kritische Nacht daran gehindert, Teil einer Erinnerung zu werden. Sie hatte die Produktionsstätten ihrer Persönlichkeit stillgelegt, Fließbänder voll unfertiger Gedanken blockiert und mechanische Arme gestoppt, die nun einbaubereite Fertigungsteile des nächsten Bewusstseinsschritts erstarrt in die Luft hielten. Eine Weile noch hatte Frau Smutek in der schweigenden Montagehalle gestanden und war schließlich ins Freie getreten. Dort bewegte sie sich mit vorsichtigen Schritten und geschärften Sinnen auf unvertrautem Grund. Als der Arzt ihr das zu erklären versuchte, lachte Frau Smutek und summte nie wieder in seiner Gegenwart.
    An den Nachmittagen und Abenden begegnete sie ihrem Mann und fand ihn gut aussehend und liebevoll. So erhärtete sich ihr Verdacht, dass er eine Krise durchlitten habe und sich seit einiger Zeit auf dem Weg der Besserung befinde.
    Smutek stand prinzengleich und mit ausgebreiteten Armen neben seinem Schneewittchen bereit, das endgültig zu erwachen schien. Wenn sie abends zusammen aßen und sich über den Tisch hinweg in die Augen schauten, hielt jeder den anderen für einen vollständig überlieferten Menschen, sich selbst aber für eine frisch fertilisierte Person, mit der es das Gegenüber vorsichtig vertraut zu machen galt. Smutek verfüllte die Bruchstellen mit behutsamer Gesprächigkeit. Weil er dabei das aberwitzige Bedürfnis unterdrücken musste, seiner Frau

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