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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Gleichgültigkeit der eigenen Existenz gegenüber.
    Häufig dachte sie an den Mann ohne Eigenschaften, dem sie sich verwandt fühlte, als wäre sie eine Reinkarnation der wiedergefundenen Agathe. Sie waren beide nicht in der Lage, ihr Gedächtnis als eine massive Halle von Stahl und Glas zu errichten, sie reisten lieber mit leichtem Gepäck und blieben deshalb Vagabunden in den Fluren der Gegenwart. Über sie galoppierten Gewissheiten und Zweifel hinweg wie über einen steinigen Boden, der zittert und staubt, aber keine Spuren bewahrt. Ähnlich wie Ulrich hielt Ada sich weniger für ein Einzelwesen als für ein Zeitgeistdestillat. Wenn sie vor anderen agierte und sprach, kam es ihr vor, als präsentierte sie einen Prototypen, dazu geschaffen, den Schwellenmenschen vor Augen zu führen, welches nächste Etappenziel die Evolution ansteuerte, so unausweichlich, dass Pessimismus und Depression nicht mehr Bedeutung besaßen als ein modisches Hobby. Auf diese Weise war jeder Tag eine Darbietung, jede Begegnung kalt und sinnvoll, als befände sich die Glaswand einer Vitrine zwischen Ada und dem Rest der Welt. Niemand würde es wagen, ein von unsichtbaren Fäden gesichertes Ausstellungsstück zu berühren. Ada war unanfechtbar wie eine letztinstanzliche Entscheidung.
    Seit neuestem ging Alev ihr morgens ein Stück entgegen und wartete an der Ecke einer schmalen Allee, die, von Einfamilienhäusern gesäumt, direkt auf den mächtigen Ziegelbau von Ernst-Bloch zuführte, dessen Dächer sich hoch und schwer über dem Wohngebiet erhoben wie das Deck eines Dampfers im Jachthafen. Einen Fuß hatte Alev in Großwildjägerpose auf seine Aktentasche gestellt, als erwartete er, im nächsten Augenblick photographiert zu werden. Während Ada sich langsam näherte, spürte sie jeden einzelnen Beinmuskel als Träger einer ungewöhnlichen Kraft, die ihr auf den leisesten Wink zur Verfügung stand. Obwohl sie ein Lächeln in sich trug, hob sie zur Begrüßung nur eine Braue, weil die Unanfechtbarkeit nicht mehr erlaubte. Wenn Alev sie an sich zog, marschierte ihr Herz bis unter die linke Achselhöhle. Sein Körpergeruch stellte noch immer die größte Sensation dar, mit der ihr Wahrnehmungsapparat sich je auseinander zu setzen gehabt hatte. Vorsichtig holte sie Luft, mit der Nase tief in seinen dunklen Haaren, die Festigkeit und Dichte einer Kleiderbürste besaßen. So bildeten sie mitten auf der Straße ein Separee, indem sie die Gesichter am Körper des anderen vor der Welt verbargen.
    In den Einfamilienhäusern standen Mütter an ihren Küchenfenstern, die trotz des Tageslichts noch erleuchtet waren, und dachten jeden Morgen, was für eine wunderschöne Szene das sei und wie die beiden Kinder da draußen eines Tages heiraten würden, um selbst Kinder zu zeugen und an Küchenfenstern zu stehen, schwach von einer Sehnsucht, die sich so entschieden in die Vergangenheit richtete, als gäbe es dort etwas zu holen. Schon nach einer Woche begann man sie zu erwarten. Da ist er ja, mit seiner altmodischen Aktentasche, und da kommt sie, hübsch wie ein Tier, das nichts von sich selber weiß. Er kann sie küssen, ohne ihr Gesicht auszuwischen. Wir haben damals Make-up benutzt. - Ada ahnte nichts von der Existenz einer neoromantischen Oberfläche, die Alev und sie umschloss, gut lesbar und unzutreffend wie die Werbeaufschrift auf der Rückseite eines Cornflakeskartons, die man Morgen für Morgen beim Frühstück studiert. Weil ihr die Begabung zum Blick in Sartres Spiegel der Anderen fehlte und sie den Leuten aufs Kinn statt in die Augen sah, blieb sie für sich selbst unsichtbar wie ein Kind, das die Hände vors Gesicht schlägt und meint, das beste Versteck auf Erden gefunden zu haben. Mit fünfzehn Jahren und einem hyperaktiven Verstand im Goldfischglas besaß sie die vollkommene Disposition, um im Lauf eines nicht allzu langen Lebens nach allen Regeln der Kunst verrückt zu werden. Hätte die weibliche Zuschauerschaft davon gewusst, wäre sie keine Sekunde länger am Fenster geblieben. Sie hätte sich daran erinnert, dass jeder verklärte Blick in die Vergangenheit teuer bezahlt werden muss mit dem Alles-wird-schlechter-Gefühl, und hätte die Pausenbrote ihrer Sprösslinge an diesem Tag mit einer Mischung aus Genugtuung und Resignation bestrichen.
    Unterdessen wurden die Küsse, die den Hauptbestandteil des Schauspiels bildeten, nicht wirklich ausgeteilt. Alev streifte Adas Lippen mit den seinen und begann schon zu sprechen, während er sie noch

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