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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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an sich drückte wie einen wiedergefundenen Koffer mit wertvollem Inhalt. Er war begierig aufs Reden, er wollte ihre Ohren, nicht ihren Mund.
    »Wenn ich Schriftsteller werden wollen würde«, sagte er zum Beispiel, »würde ich eine junge Frau erschaffen.«
    »Vielleicht solltest du dich bemühen, einer werden wollen zu können«, antwortete Ada und setzte sich in Bewegung, während an den Fenstern die Gardinen schwankten.
    »Die junge Frau verliebt sich in einen jungen Mann. Sie hat den Großteil ihres Lebens in einer kleinen Stadt hinter dem Mond verbracht, während er viel herumgekommen ist. Im Vergleich zu ihrem bundesrepublikanischen Schneeglas kommt ihm der eigene Horizont geradezu kanadisch vor.«
    »Soll mich das an jemanden erinnern?«
    »Nicht doch.« Er hielt Ada am Ärmel fest, und sie ließen zwei grüne Ampelphasen verstreichen, um Zeit zu gewinnen.
    »Um ihn zu beeindrucken, erklärt die junge Frau, eine Weltreise unternehmen zu wollen. Sie setzt sich in einen Zug und ist fort. Wenige Tage später erreicht ihn die erste E-Mail aus London. Kurz darauf aus Paris, Lissabon, Madrid.«
    »Odessa, Tbilissi, Al-Qahira und Al-Iskandariya?«
    »Meinethalben auch von dort. Johannesburg. Montevideo. Fitzroy.«
    »Wo ist Fitzroy?«
    »Auf den Falklandinseln. Weißt du, worauf ich hinauswill?«
    »Ja.«
    »Wo befindet die junge Frau sich wirklich?«
    »Hier.«
    »Mit einer Standleitung zum Internet und einem Atlas der New World Edition auf dem Bett. Mein Roman würde aus den Briefen bestehen, in denen sie dem Geliebten von ihren Abenteuern erzählt. Eine Stadt nach der anderen richtet sich auf, wie sich in Pop-up-Kinderbüchern die Kulissen entfalten.«
    »Du glaubst, das würde funktionieren?«
    »Absolut. Eins ist überall gleich, und das sind die Unterschiede. Stadt und Land, Arm und Reich, Liebe und Hass, Mörder und Gemordete. Hat man erst einen Ausgangspunkt, kann man den Rest errechnen. Heutzutage müssen wir nicht mehr wegfahren, um von der Welt zu erzählen.«
    »Das Lokalkolorit zum angeborenen Nomadengefühl gibt's im Internet.«
    »Absolut. Ich würde dieses Buch in vier Sprachen schreiben. Es hieße: Letters from the World.«
    So mochte es weitergehen, bis sie die Schule erreichten. Alev wich nicht von ihrer Seite, und sogar vor dem Klassenraum lehnten sie noch ein paar Augenblicke an der Wand, um ihr Gespräch fortzusetzen, mit ernsten Mienen und dezenten Gesten, wie gute Kollegen zu Beginn eines Arbeitstags voller Konferenzen, Konflikte und Konsequenzen.
    Über den Verbleib der Zeit, die sie nicht gemeinsam verbrachten, legte niemand Rechenschaft ab. Wer Ada und Alev sah, hielt sie für Geliebte, beste Freunde oder Geschwister, Ada hingegen ging davon aus, dass Alev in ihrer Abwesenheit nicht mehr an sie dachte als ein Geschäftsmann auf Reisen an seine Ehefrau. Solange sie nicht auf dem Trimm-dich-Pfad der Begriffe die Stationen Liebe, Freundschaft und Treue abklapperte, vermisste sie nichts. Die neue Unanfechtbarkeit war wie flaches Wasser, das auseinander spritzt, wenn man hineintritt, und unversehrt wieder zusammenfließt. An guten Tagen schiffte die Welt in kleinen Booten darüber hinweg. An schlechten Tagen spürte Ada den Sog der Gezeiten, das Hierhin und Dorthin des Mondes, und wenn sie versuchte, in sich selbst hineinzusehen, sah sie das eigene Gesicht, wie es versuchte, in sie hineinzusehen.
    Es kam ihr vor, als hätte sie zu wachsen begonnen. Die Gliedmaßen wurden länger und beweglicher, der Rücken biegsamer, die Hüften zarter. Die Beine spreizte sie ohne Schmerzen wie eine Turnerin. Sie rannte schneller denn je.
    Smutek bleibt bei klarem Verstand. Sein Schneewittchen erwacht und
    begrüßt ihn als genesenen Kranken. Nie hat der katholische Gott sich schwächer gezeigt
    W enn der Mensch versucht, sich etwas vorzustellen, wird er notwendig irren. Vorstellung und Wirklichkeit sind nur in Ansätzen aufeinander bezogen, und der Glaube, Erstere müsse sich ständig mit Letzterer befassen, beruht auf der Tatsache, dass jene ungelöste Gleichung, die wir unser Ich nennen, genau am Schnittpunkt der beiden Koordinaten liegt. Wenn sich trotz hart erkämpfter Annäherung von beiden Seiten ein Abgrund zeigt, wird man nervös.
    Smutek war nervös. Stellte er sich vor, wie es wäre, eine Affäre mit einer Schülerin zu haben, dachte er an einen Kerl, der von Besessenheit befallen ist wie von einer Krankheit, die in allen Körperzellen schlummert und von Zeit zu Zeit unter Schweißausbrüchen an die

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