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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Oberfläche drängt. Er dachte an jemanden, der seinen Trieben hilflos ausgeliefert ist und nach importierten oder selbst gefangenen Opfern greift wie ein Heroinsüchtiger nach der Nadel. Solche Begierde musste wie ein Wutanfall funktionieren, der vom Magen aufsteigt, die Brust verengt, die Augen rötet und den Kopf weitet zu einem unmöblierten Raum, in dem die Gedanken obszönen Kitsch gegen leere Wände keuchen, während der Körper wie ein ausgerissener Haushund nach der Beute schnappt. Smutek aber ging zur Schule, verteilte generöse Deutschnoten, hielt sich von den Kollegen fern, woraufhin allgemein angenommen wurde, er sei über Höfis Tod nicht hinweggekommen, und wartete freitags pünktlich um fünf in der Lehrerumkleide auf seine beiden Dompteure. Den Geschlechtsverkehr vollzog er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte wie ein modernes Theaterstück: wenig Text, körperlich anstrengend und immer ein ästhetisches Problem. Zu seiner Frau war er offen, geduldig und einfühlsam, im Unterricht ein wenig abwesend, als spräche er aus großer Entfernung zu seinem Publikum. Anders als früher verließ er das Pult nicht mehr, um beim Reden Spaziergänge zwischen den Bankreihen zu unternehmen. Der Zettel, mit dem Alev ihm auftrug, Konflikten mit Teuter unter allen Umständen aus dem Weg zu gehen, wäre nicht nötig gewesen. Smutek zeigte in jeder Lage das Lächeln eines gealterten Revolutionärs. Wenn es geschah, dass er im Unterricht an Adas Brüste dachte, ließen die Ausläufer einer Paranoia ihn fürchten, die sündlosen Kinder könnten die Bilder in seinem Kopf wittern wie Waldtiere das Blut eines Artgenossen. Er verzichtete auf das Malen von Tafelbildern und trug lange Jackettschöße über der Jeans. Hätte er noch an das Bevorstehen eines nächsten Sommers geglaubt, wäre ihm die Aussicht auf steigende Temperaturen als echte Bedrohung erschienen.
    Nachdem er aus dem Eilzug seines Lebens abgesprungen war, hatte er erst schwankend, dann mit festeren Schritten den Weg eingeschlagen, den die Erpressung vor seinen Füßen auftat, und lief seither ohne Zögern in die vorgegebene Richtung. Was es über derartige Spiele in Filmen und Büchern zu erfahren gab, war ihm bekannt. Die gut asphaltierte Straße vor ihm hielt keine Abzweigungen bereit und steuerte kurvenlos auf ein Verhängnis zu, das im übersichtlichen Gelände die ganze Zeit in Sichtweite lag. Er würde seinen Job und Frau Smutek verlieren, einige Zeit im Gefängnis verbringen oder jahrelang zweimal pro Woche einem Bewährungshelfer Bericht aus den Trümmern einer zerstörten Existenz erstatten. Er wäre vorbestraft und würde Polens Beitritt zur Europäischen Union, auf den er sich seit Jahren freute, als einen Schicksalsschlag verfluchen, weil er den Versuch erschwerte, in der großen, gesichtslosen Stadt Warschau ein neues Leben zu beginnen. Die Mühe, nach einem Ausweg zu suchen, konnte er sich sparen. Selbst wenn Ada und Alev eines Tages wie launische Kinder ihr Spielzeug fallen lassen und das Seil kappen würden, selbst wenn sie nach Erhalt des Abiturs das Interesse an der Dressur ihres Lehrers verlören, würde die Erpressung ihre Widerhaken in seinem Fleisch zurücklassen, und der Tag, an dem er sie nicht mehr spürte, war schon jetzt unwiderruflich aus seinem künftigen Lebenslauf gestrichen.
    Manchmal auf dem Weg zur Schule ließ er den Volvo zufrieden brummend und mit pulsierender Warnblinkanlage vor einer Sparkassenfiliale warten, während er vor den Geldautomaten trat und die Auszahlung eines kleineren Betrags veranlasste, den er vor der ersten großen Pause in einem Umschlag unter dem Klassenbuch liegen ließ. Den wenigen Zetteln, die um Geld baten, stand die Scham in jedes Wort geschrieben, und Ada vergaß niemals, sich bei nächster Gelegenheit für die Spende zu bedanken, während die Tatsache, dass Smutek sie jeden Freitagnachmittag nicht weniger unfreiwillig begattete, niemandem ein Wort des Dankes wert war. Smutek gab gern. Es beruhigte ihn, wenn Bonnie und Clyde zwischen Perversionen und galliger Normalität Raum für ein harmloses Vergnügen fanden, ein bisschen Konsum, eine neue Hose, ein gutes Essen, Musik, Bücher oder Drogen, was auch immer man in diesem Alter mit fünfzig Euro anfing. Es half ihm, vernünftig zu sein und nicht nach dem Warum zu fragen. Es gab Menschen, denen ein Bein fehlte oder die als Kind im Gartenschuppen täglich mit einem anderen Stück Kaminholz verdroschen wurden. Die Vielfalt möglicher Heimsuchungen

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