Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
überall. Er hatte Lust, auf dem Absatz herumzufahren und Mathe-Wirger die Fresse dafür einzuschlagen, dass er sie >Die kleine A.< genannt hatte.
    Sicherheitshalber hielt er sich an einem Heizungsrohr fest. Aber es hatte längst zum Ende der Pause geklingelt, und das Lehrerzimmer hinter ihm lag öde und leer. So stand Smutek allein mit dem Gesicht zur Wand, und für den Moment hatte ihn alles verlassen. Er stand da aus rein statistischen Gründen, der obligatorische Außenseiter, ein leeres Gefäß mit einer vollen Tasse kalten Kaffees in der Hand.
    Fliegende Bauten. Smutek kommt mit dem Zeitgenössischen nicht zurecht. In einem Flashback versucht Ada, ihn prophylaktisch zu impfen
    I n den ersten Maitagen entschuldigte der Frühling sich traditionsgemäß für den vergangenen Winter, für Schneematsch, überfrierende Nässe, umgeworfene Bäume und dafür, dass die Menschheit wie jedes Jahr ihre Vorfahren in den Rohren der Heizungsanlagen verfeuert hatte, in Kilojoule gesprochen. Allmorgendlich wurde ein feuchter Himmel zum Trocknen aufgespannt, flatterte leicht im Wind und wellte sich an den Rändern, wo die wärmer werdenden Sonnenstrahlen ihn aufheizten. Aus jedem Gebüsch tönte das Kampfgeschrei balzender Singvögel und erfüllte die Menschen mit Phantasien von der angeblichen Freude der Meisen über das schöne Wetter. Kinder bewegten sich im Hüpfschritt fort, Passanten lächelten einander grundlos zu, die Zahl der Verkehrsunfälle ging saisonbedingt zurück, und sogar das Wehgeschrei der Presse über den sicheren Untergang der Nation verstummte. Smutek trainierte seine Läufer wieder im Freien.
    Der Durchmesser des Kreises, innerhalb dessen er sich während der Aufwärmübungen drehte, hatte sich deutlich vergrößert. Augenscheinlich sprach man wohlwollend von ihm, jedenfalls unter Mädchen. Die Gruppe unterlag den demographischen Strukturen eines Bauch-Beine-Po-Kurses. Wenn er den Schülerinnen beim Grätschen, Beugen und Strecken zusah, fünfzehn Paar Hände in die schmalen Hüften gestützt, die Haare vielfarbig flatternd im Wind, fünfzehn Gesichter, weich und rein wie frisch gekneteter Teig, den ersten Nasenstübern der Sonne entgegengereckt, hätte es Grund gegeben für ein bisschen mens- sana-Glückseligkeit. Aber Smutek konnte nur daran denken, dass diese jungen Leute niemals wirklich schnell werden würden. Ihm fehlte eine gewisse mens insana, die sich während des Aufwärmtrainings abseits zu halten pflegte, unbeteiligt am Boden kauerte und Gräserkunde betrieb, bis sich die Gruppe Richtung Tartanbahn in Bewegung setzte. Einmal hatte er gesehen, wie sie eine ausgerauchte Zigarette fortwarf, bevor sie das rote Granulat betrat. An einem solchen Tag, ganz in blaugrün-weiß wie eine Waschmittelreklame, war es besonders schwer zu glauben, dass er selbst ihr verboten hatte, am Training teilzunehmen. Sie hatten lang nicht miteinander gesprochen. Manchmal, wenn ihre Blicke sich zufällig kreuzten, verfinsterte Adas Miene sich auf eine Weise, dass Smutek sich entzückt fragte, ob sie ihm deswegen böse sei.
    Der EU-Beitritt vollzog sich ohne großes Rumoren. Es gab nur ein leises, bescheidenes Klicken, das Umlegen eines Schalters, nachdem die ganze Maschinerie in jahrelanger lärmender Arbeit fertiggestellt worden war. In Berlin, hörte man, hatten ein paar Osterweiterungspartys stattgefunden. Der Erste Mai fiel aufs Wochenende und stahl der arbeitenden Bevölkerung einen Feiertag. Frau Smutek, die noch vor einem halben Jahr behauptet hatte, sich an diesem historischen Datum im Schlafzimmer einzuschließen, um das Ende einer Weltordnung zu beweinen, war mit einer Arbeitskollegin in die Eifel gefahren.
    Smutek wusste nichts mit sich anzufangen, lungerte im Arbeitszimmer herum wie an einer Bushaltestelle nach Fahrplanende und griff sich ein Buch vom Stapel mit Gegenwartsliteratur.
    »Ich küsste ihn und sein Mund war weich wie aus Schamlippen zusammengesetzt. Eine quer gelegte Vagina mit beweglicher Zunge in der Mitte. Ich weiß, wie Vaginen sich anfühlen, wenn man sie küsst. Als Studentin hatte ich immer nur Frauen. Ich glaubte, dass das die einzig verbliebene Art von Liebe sei. Alles andere war abgedroschen, an den unwürdigsten Orten unzählige Male besprochen und verhandelt.
    Bausparwerbung, Kleinwagen, Loveparade, Kita-Platz, von der Bravo bis ins Brigitte-Dossier, Levi's, Atemfrische, der ganze heterosexuelle Kitsch. Ich konnte nicht mehr. Ich hielt es nicht aus, diese Scheiße zu reproduzieren. Ich

Weitere Kostenlose Bücher