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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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mit weißen Streifen an den Seiten, teurer als jedes Kleidungsstück, das sie bislang besessen hatte. Gemeinsam mit dem abgescheuerten Saum der Jeanshosenbeine ergaben sie eine optische Zusammenfassung des aktuellen Jahrzehnts. Ada trug Zeitgeist an den Füßen und konnte sich nicht satt daran sehen. Wer so schnelle Füße besitzt wie du, hatte Alev gesagt, braucht angemessene Futterale dafür. Solche Schuhe waren nicht für den Sport, sondern für die Straße bestimmt. Nun hatte sie etwas, worin sie auch im Alltag davonlaufen konnte. Sie passten wie angegossen.
    Aus Smuteks Perspektive schaute Ada nach unten, um das Gesicht zu verbergen. Sie musste bemerkt haben, wie er sein Buch zur Hand nahm, sie musste wissen, dass er den Zettel las. Willst du mit mir gehen? Ja, Nein, Vielleicht. Wie die meisten Leute schätzte er die Option des Vielleicht als einzig wahrhaftige Antwort, hochgradig ehrlich und auf jede Frage passend. Der Brief, den er bekommen hatte, enthielt diese Variante nicht, es waren überhaupt keine Kästchen an den unteren Rand gemalt. Die Briefschreiberin wollte keine Antwort, sie erteilte Befehle und bat zur gleichen Zeit um Vergebung dafür.
    Ich habe Schulden bei Ernst-Bloch. Erneuter Schulwechsel nicht empfehlenswert. Gib ein Zeichen der Hilfsbereitschaft. Glaub nicht, dass mir das Spaß macht. PS: Keine Bedenkzeit.
    Smutek bedankte sich für den Beitrag des Schülers, von dem er kein Wort verstanden hatte, und rief den nächsten auf, um ein paar Minuten Zeit zu gewinnen. Heimlich drückte er den Zettel zusammen und schob ihn in die Hosentasche, korrigierte zum wiederholten Mal die Aussprache von >Diotima< und ließ die anschließende Suada ungestört abspulen. Die Frau von Sektionschef Tuzzi ist eine gebildete Dame, wenn auch ohne öffentliches Amt.
    Ada hatte sich keinen Nanometer gerührt. In der schräg gegenüberliegenden Ecke kippelte Alev auf seinem Stuhl und verfolgte die Bahnen der kämpfenden Fliege mit dem trägen Ausdruck einer Raubkatze, die geistesabwesend wirkt und doch bereit ist, in nächster Sekunde loszuschlagen. Irgendetwas in seiner Haltung bezeugte, dass er von diesem Zettel keine Kenntnis besaß. Da war ein Riss. Ein haarfeiner Spalt zwischen Alev und Ada, in den ein Keil gesetzt werden konnte, um mit kräftigem Schlag die beiden Hälften zu spalten. Was, wenn Smutek ihr sagte, dass er Alevs Anweisungen befolgen würde, nicht die ihren? Wenn er zu Alev hinüberginge, um den zerknüllten Zettel auf dessen Pult fallen zu lassen? Smutek war sicher, dass Ada allein die Bombe niemals zum Platzen bringen würde. Ihre Drohung war leer, und weil sie schlau war, musste sie ahnen, dass Smutek das ahnte.
    Bei genauem Hinsehen glaubte er zu bemerken, dass auch ihre abgedichtete Haltung etwas zu sagen hatte. Ihre Arme hingen neben dem Stuhl herab, und der nach vorn gebogene Nacken sah aus, als müsste er schmerzen. Spuren der Hilflosigkeit, Symptome der Schwäche. Es gab also eine Sache, die sie wirklich wollte, etwas, das ihr wichtig war. Sie wollte Ernst-Bloch, diese Insel der Gestrandeten, nicht verlassen. Das kam einem Gefühl gleich. Smutek war gerührt.
    »Auch der große Paul Arnheim«, leierte der Schüler, »der ein Deutscher ist, kann sich Dio-tiiie-mas Charme nicht entziehen. Dabei hat sie eigentlich nie eine richtige Idee, sondern redet nur heiße Luft.«
    Die Klasse lachte. Es war sensationell, mit welch harmlosen Späßen die Angehörigen der angeblich abgebrühtesten Generation aller Zeiten zu beglücken waren. Natürlich lachten Ada und Alev nicht mit, sondern behielten ihre Positionen bei, unberührt wie Taubstumme vor einem Hörspiel. Smutek näherte sich dem Fenster, ohne eine Entscheidung getroffen zu haben. Das Entscheiden an sich war ein unsinniger Akt. Er wollte sich aufs Gehorchen konzentrieren, um auf diese Weise wenigstens einen Teil seiner Würde zu retten. Seit er am vergangenen Freitag darauf verzichtet hatte, seinem jäh überkochenden Zorn freien Lauf zu lassen und ihn auf Alev zu hetzen, haderte er mit der Idee, dass er das Ganze möglicherweise nur Ada zuliebe ertrage, nicht unter dem Druck der Erpressung, nicht aus Angst vor gerichtlicher Strafe, sondern weil dieses Mädchen so glücklich wirkte an der Seite ihres kleinwüchsigen Gebieters. Ein unerträglicher Gedanke.
    Die Fliege hatte sich zum Ausruhen auf einem Wandstück niedergelassen. Hätte sie Lungen besessen, wären ihr diese vor Anstrengung schier zersprungen. Smutek schob einen Finger ins Buch,

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