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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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war nicht hässlich genug, um mit reinem Herzen zu denken. Ich fürchtete die Armee der Puppen wie Heerscharen des Leibhaftigen, ich sehnte mich nach dem islamischen Bilderverbot. Handeln nicht alle Religionen letztlich vom Erhalt der mentalen Gesundheit? Gleichzeitig wollte ich ein >Wir< sein. Ich ertrug Sätze nicht mehr, die mit >Ich< anfingen. >Ich< war eine psychologische, literarische oder ökonomische Fiktion, ein handliches Türschild an den Laboratorien der Selbsterschaffung, und nun sollte es herhalten als politisches Programm, als Flagge der neuen Kleinstaaterei in einem Land aus achtzig Millionen Ein-Mann-Systemen? Gebt mir eine Uniform, damit ich >wir< sein kann! Aber es gab keine Uniformen mehr. Wenn ich mich mit meiner jeweiligen Liebsten in einem Schaufenster spiegelte, erinnerten wir wenigstens nicht an einen Werbespot für ostdeutsche Zigaretten. Ach, die neunziger Jahre. Das zwanzigste Jahrhundert! Blasmusik und Bewusstseinserweiterung. Was soll's. Ist doch vorbei. Ich will nur nicht durch den Mund eines Mannes daran erinnert werden.«
    Smutek schlug das Buch zu und legte es zurück zu den anderen. Diese Bücher waren warm und feucht aus den Umluftöfen der Gegenwart zu ihm gekommen, gut aussehende Bücher, die das gute Aussehen ihrer Autoren durch große Photos auf dem Umschlag dokumentierten. Er hätte sich von seinem Kurs erklären lassen müssen, wovon diese Texte handelten und was sie bedeuten wollten, er hätte als einzelner Schüler dreißig kleinen Lehrern gegenübergestanden. Dazu fehlte ihm die Nervenkraft. Er wollte nicht ahnen müssen, er wollte wissen dürfen. Das Buch, in dem er gelesen hatte, hieß Fliegende Bauten, die Autorin war eine runde Anzahl von Jahren jünger als er und verdiente vermutlich ein Vielfaches an Geld. Im Lehrplan galten Böll, Brecht und Borchert ebenso als zeitgenössisch wie ein vor wenigen Monaten erschienenes Werk. Aber Smutek wollte kein Kulissenschieber sein und den Schülern vor modernem Bühnenbild einen Text präsentieren, dessen literarisches Konzept der Vergangenheit angehörte. Die wirklich zeitgenössischen Werke verstand er jedoch nicht, oder vielleicht war er gewöhnt, alles, was er nicht verstand, mit dem Attribut >zeitgenössisch< zu belegen.
    Aus Unschlüssigkeit schlug er den Begriff >Fliegende Bauten< im Duden-Lexikon nach und schrak zusammen wie unter einer unerwarteten körperlichen Berührung, als er ihn tatsächlich fand. »Ein Rechtsbegriff«, stand dort. »Fliegende Bauten sind bauliche Anlagen, die geeignet und bestimmt sind, an verschiedenen Orten wiederholt aufgestellt und zerlegt zu werden.«
    Die Worte verbreiteten eine unverantwortliche Traurigkeit, und Smutek spürte sein Gesicht schwer werden, indes er weiterlas: »Beispiel: Zirkuszelte, Jahrmarktsbuden, Toilettenwagen, Karusselle. Fliegende Bauten bis fünf Meter Höhe, die nicht dazu bestimmt sind, von Besuchern betreten zu werden, bedürfen keiner Ausführungsgenehmigung.«
    Er saß still und stumm, bis es schwierig wurde, nicht zu bemerken, dass ihm möglicherweise doch bekannt war, wovon ein solches Buch handeln musste. Aufbauen. Zerlegen. Weiterziehen. Keine Besucher. Jahrmarktsbuden. Toilettenwagen. Er wollte damit nichts zu tun haben. Er stützte den Kopf in die Hände. Nacken und Schultern waren müde davon, immerzu das Kinn hoch tragen zu müssen.
    Durch Konditionierung kann es bei Süchtigen zu Rauschzuständen kommen, die jenen nach dem Konsum von Drogen gleichen, obwohl im konkreten Fall kein Rauschgift eingenommen wurde. Dann genügt ein sensorischer Lindenblütentee, ein Nadelstich oder der Geschmack weißen Pulvers auf der Zunge, und der Körper weiß, was er zu tun hat, das Gehirn definiert sich als stoned. Einen solchen Flashback löste der Begriff >Fliegende Bauten< aus. Er brachte ein Gespräch zu Smutek zurück, mit dem Ada ihn vor einigen Tagen überfallen hatte. Offensichtlich hatte sie das erzwungene Schweigen zwischen ihnen nicht mehr ausgehalten. Was sie ihm gesagt hatte, erschien Smutek nun wie ein Prolog zu seiner unvermittelten Traurigkeit, als hätte sie ihm im Voraus und mit vielen kryptischen Worten erklären wollen, warum er nicht in der Lage war, ein Buch zu lesen, das Fliegende Bauten hieß.
    Süß, Smutek!, klang es ihm in den Ohren, verstärkt durch Kachelwände, die es in seinem Arbeitszimmer nicht gab, und erneut empfand er jene mit Verlangen gemischte Ablehnung, die ihn seit neuestem anfallsartig überkam, wenn er sich Ada allein

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