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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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um das Kapitel nicht zu verlieren, klappte es zu und hob es bis zu der Stelle, an der die Fliege saß. Es klatschte mit solcher Macht gegen die Wand, dass der vortragende Schüler leise aufschrie und das knittrige Kästchenpapier, von dem er abgelesen hatte, zu Boden gleiten ließ. Jetzt war die Fliege ein übelfarbiger, stückchenhaltiger Fleck auf dem Mann ohne Eigenschaften. Smutek hatte ein Zeichen gegeben.
    »Manche Wesen«, sagte er zur Klasse, »muss man von ihren Irrtümern über die Natur der Freiheit erlösen.«
    Darüber lachte nur Alev, dafür so laut, dass es für alle anderen reichte. Gleichzeitig strich Ada sich die Haare aus dem Gesicht und schenkte Smutek ein offenes Strahlen, als stünden sie gemeinsam vor dem Altar und warteten auf die Erlaubnis des Priesters, sich küssen zu dürfen.
    An den nächsten schlaflosen Morgen liefen die gefräßigen Termiten in Form von Zahlenketten durch Smuteks Kopf. Man konnte sie in Kalkulationen zu einem fleißigen Ameisenstaat domestizieren, dessen Funktionieren vor Angriffen schützte. Als Smutek fertig war mit Rechnen, ging er eines Nachmittags zur Bank und bat um einen Kleinkredit. Weil er nichts besaß außer einem Grundstück an einem polnischen See mit dem verbrannten Skelett eines Holzhauses darauf, bot er dem Geldinstitut eine Abtretung seiner Gehaltsansprüche als Sicherheit an.
    Das Lehrerzimmer begann hämisch zu wispern. Nun wäre unser Töter die kleine A. beinahe ohne jedes Zutun losgeworden. Sonja Rosenhof blies den mütterlichen Busen auf. Wo die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten! Nach meinen Informationen, zischte Mathe-Wirger, ist es weniger Unser Herr als ein generöser Verwandter, der ihre Schulden begleicht.
    Smutek wurde nicht nach seiner Meinung befragt. Seine idiosynkratische Aura erlaubte ihm seit Wochen ein steppenwölfisches Mäandern durch die sozialen Zusammenhänge. Um dem Geschwätz zu entgehen, stellte er sich mit seiner Kaffeetasse in möglichst großer Entfernung zu den flüsternden Grüppchen an die andere Seite des Raums. Auch davon hatte man also erfahren. Am Morgen noch hatte er einer verängstigten kleinen A. in wenigen, schnellen Worten erklären müssen, dass die Bewilligung und Auszahlung eines Darlehens eine gewisse Zeit in Anspruch nehme. Niemand hier war zu Gründer gelaufen, um zu verhindern, dass eine derart hoch begabte Schülerin aus pekuniären Gründen von der Schule entfernt wurde, niemand hatte sich für eine Stundung oder einen Schulgelderlass eingesetzt, und ihm selbst waren in allem, was Ada betraf, die Hände gebunden. Er wandte sich ab, weil er fürchtete, der Ärger könne ihm ins Gesicht geschrieben stehen. Seit Höfis Tod war Ernst-Bloch nicht mehr der rechte Platz für ihn. Höfi hätte gewusst, was zu tun war, Höfi hätte sich nicht aufs Flüstern beschränkt. Vielleicht hätte er sogar für Smuteks Lage eine Lösung gewusst. Ohne Höfi war Smutek ein Fremdkörper in diesen Räumen, ein Karpfen im Hechtteich, ein Tropfen Öl im Wasserglas. Er fühlte sich fremd. Er wollte zurück in sein Heimatland, zurück nach Polen, wo solche Dinge ebenfalls passierten, derzeit aber nicht ihm.
    Spätestens nach diesem Gedanken wusste Smutek, dass er nicht ganz zurechnungsfähig war. Wenn er an die kleine A. dachte, über deren Schulgeld das Kollegium stritt, die, wo sie auch auftauchte, zum Zankapfel wurde, die keine einzige Regel des menschlichen Zusammenlebens auch nur in Ansätzen kapiert hatte, die renitent war und auf intelligente Weise dumm, verspürte er nur einen Wunsch: Er wollte den letzten Tropfen Blut aus den körpereigenen Schläuchen pressen und für sie hingeben, wenn es nötig sein sollte. Sie hatte den großen Kopf im Nebel eines neu heraufziehenden Zeitalters verloren, das ihr eine andere Wirklichkeit zeigte als jene, in der Smutek sich bewegte und die er für die einzig gültige gehalten hatte. Sie konnte nichts dafür. Die kleine A. war amoralisch, anormal und asozial. Er mochte sie gern. Smutek stand vor den Bildern an der Wand des Lehrerzimmers, ohne eins davon zu betrachten, und fühlte deutlich, dass er nur hier war, weil er keinen anderen Leib und keine zweite Seele besaß, die als Aufbewahrungsort für die Tatsache seiner Existenz hätten dienen können. Die Idee, in ein Land zurückzukehren, das den Status einer Schwarz-Weiß-Photographie aus den siebziger Jahren einnahm, hatte sich genauso schnell wieder verflüchtigt, wie sie gekommen war. Zugrunde gehen konnte man

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