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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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gegenüberfand. Sie hatte das Ende seines Lauftrainings abgewartet und ihn im Waschraum der Turnhalle abgepasst. Weil Smutek nichts Besseres eingefallen war, hatte er sie versuchsweise für eine Wahnvorstellung gehalten, hervorgerufen durch die Perlenkette aus Wassertropfen, die ihm an den Wimpern hing. Seit er die dreißig überschritten hatte, verlängerten sich die Phasen des Nachschwitzens von Jahr zu Jahr, und Smutek verbrachte immer mehr Zeit damit, sich über weiße Keramikschüsseln zu beugen. Ada hatte ihn wirklich erschreckt.
    »Ich bin davon überzeugt«, sagte sie laut und scharf, »dass es auch für dich irgendwo auf der Welt einen Platz gibt. Vielleicht nicht gerade hier. Aber irgendwo schon.«
    Er tauchte, beide Hände noch unter fließendem Wasser, aus dem Becken auf, keuchend, als wäre er knapp dem Ertrinken entronnen. Ada trug die Haare am Hinterkopf zusammengerafft mit einer Plastikkralle, die er noch nie an ihr gesehen hatte und die ihr mit gebogenen Stacheln Löcher in die Kopfhaut zu bohren schien. Sie war wütend.
    »Du platzt hier rein, um mich für meine Herkunft auszuschimpfen? Kindchen - bist du übergeschnappt?« Smutek freute sich, sie zu sehen, und verschwendete keine Mühe darauf, es zu verbergen.
    »Ich war im Park auf der Wiese, um dir, dem Frühling und deiner Laufgruppe zuzuschauen.« Sie trat neben ihn, und weil er gebückt über dem Becken stand, befanden sich ihre Gesichter im Spiegel auf gleicher Höhe. Smutek fragte sich erstaunt, ob er diesen Auftritt als eine verquere Eifersuchtsszene verstehen solle. Bislang hatte dieses Mädchen so viel Gefühl für ihn gezeigt wie ein Bauer für die Kuh, die er zum Weiden auf die Wiese bringt.
    »Du ziehst eine qualvolle, halsstarrige und rechthaberische Show ab«, sagte sie. »Du handelst von einer Wirklichkeit, die es nicht mehr gibt.«
    »Was gibt es nicht mehr?«
    »Unschuldige Mädchen, die auf einer grünen Wiese herumhüpfen.«
    »Was gibt es dann?«
    »Menschen, die nicht hüpfen, solange Hüpfen nicht zu ihrem persönlichen Fortkommen beiträgt. Menschen, denen selbst das Fernsehen zu anstrengend ist. Die den Sinn einer Wiese nicht begreifen und erst recht nicht den Sinn eines Sportlehrers.«
    »Du meinst also: Es gibt dich.« Darauf antwortete Ada nicht. Smutek versuchte es anders: »Beweist die Existenz meiner Sportgruppe nicht das Gegenteil?«
    »Die kommen zum Laufen, weil sie deine breiten Schultern, deinen harten kleinen Hintern und deinen Schwanz sehen wollen, der sich durch die Sporthose drückt.«
    »Was«, fragte Smutek, um einiges lauter, »willst du mir eigentlich sagen?«
    »Wenn ich könnte«, sagte sie ernst, »würde ich dich retten. Wegbringen. Du bist nicht von hier.«
    »Sondern aus Polen, oder wie?«
    Er hielt ihrem Blick stand, der sich direkt auf seine Augen richtete. Über einen Spiegel fiel es ihr leichter, ihn anzusehen. Darüber dachten sie beide nach, während ihre Blicke zwischen dem linken und dem rechten Auge des jeweiligen Gegenübers hin und her wanderten. Dann nahmen sie das Strickzeug des Gesprächs wieder auf und schlangen die nächsten Maschen. Zwei links, zwei rechts. Zwei fallen lassen.
    »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Du kommst aus einer anderen Welt. Oder aus einer anderen Zeit. Du glaubst an ein Leben vor dem Tod.«
    »Wahnsinnig geistreich.«
    Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Ihr Gesicht hing im Spiegel wie eine kunstvoll bemalte Gipsmaske vor der Kachelwand.
    »Du kennst die besondere Tragödie der Statik nicht.«
    »Der was bitte?«
    »Der Statik. Das ist die Lehre davon, wie man das Umfallen vermeidet.«
    Fliegende Bauten, dachte Smutek jetzt, haben eine ganz eigene Statik. Ohne Fundament. Im Nachhinein kam es ihm vor, als wären sie an diesem Punkt der Unterhaltung plötzlich beide darüber erschrocken, dass Ada extra gekommen war, um ihm so etwas mitzuteilen, sie waren zusammengezuckt, als hätten sie einander an den Händen gehalten, um einen elektrisch geladenen Weidezaun anzufassen. Smutek hatte geahnt, dass sie nicht von der Verfasstheit der Welt im Allgemeinen, sondern von seiner konkreten Lage sprach. Das muss eine Spielpause sein, dachte er, während Aufregung in ihm pendelnd nach oben stieg wie Kohlensäure in einer frisch geöffneten Sprudelflasche. Schon Halbzeit. Sie hatten sich am Rand der Arena getroffen, um ein paar codierte Sätze auszutauschen, unsicher darüber, ob das Gegenüber der heimischen oder gegnerischen Mannschaft angehörte.
    Ada riet ihm, sein

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