Spieltrieb: Roman
nicht verzeichneten Höchststand geklettert. Sonntagnacht hatte sie kaum geschlafen, auf dem Rücken gelegen und hinausgestarrt, als müsste sie persönlich den fünften Vollmond des Jahres über den Himmel schieben. Am nächsten Morgen war sie eilig aus dem Haus gerannt und hatte sich auf dem Weg zur Straßenecke eine Rede zurechtgelegt, die in rhetorisch akzeptable Form bringen sollte, was Ada zu sagen hatte: Lass uns aufhören mit dem Scheiß.
Alev hätte gelacht. Er hätte sie verachtet. Er hätte gefragt, ob sie übergelaufen sei, desertiert auf die Seite der Dummen, Weichen und Mittelmäßigen. Schlimmer war, dass er gar nicht erschien. Sie hatte bis fünf Minuten nach Unterrichtsbeginn gewartet, war zur Schule gerannt und hatte ihn im Klassenraum gefunden, wo er schläfrig im Stuhl hing und nicht zu verbergen suchte, dass keine einzige in diesem Raum gesprochene Silbe zu ihm vordringen würde.
Es schien ihn nicht zu stören, dass Ada ihn in dieser und in allen folgenden Schulstunden unverwandt anschaute und seine Miene zu lesen versuchte. Am Dienstag im Deutschleistungs-kurs hatte sie es nicht mehr ausgehalten und ihm einen zusammengeknüllten Zettel an den Kopf geworfen. Smutek zeichnete gerade die Kurve heraufziehenden Verderbens über der österreichisch-ungarischen Monarchie an die Tafel und tat, als hätte er nichts bemerkt.
Was ist mit Freitag?
Die Antwort ließ Alev von Hand zu Hand rings um die Klasse wandern, und Ada entfaltete das von zwölf Schülerhänden platt gedrückte Papier mit manieriert klopfendem Herzen:
Alles wie immer.
Beim Aufschauen erwartete sie, seinem Blick zu begegnen, aber er sah weiter leer und zufrieden vor sich hin wie ein Junkie nach dem Schuss. Für die nächsten drei Wörter brauchte sie eine Menge Kraft, und als die Nachricht fertig war, gelang es nur mit Mühe, sie über den Kopf zu stemmen und auf die andere Seite des Klassenzimmers zu befördern.
Ich will nicht.
Alev lächelte unter gesenkten Lidern und fuhr sich übers Gesicht, um seine Züge in Ordnung zu bringen, die für eine Sekunde einer andächtig-erotischen Abbildung der heiligen Teresa glichen. Die langen Fingernägel in Augen- und Mundwinkeln, das leichte Öffnen der Lippen und schließlich der aus der Tiefe heraufgeholte schwarze Blick brachten für Momente das kalte Brennen zurück, das Ada in die Knie gezwungen und zu einer gewissenhaften Jüngerin hatte werden lassen.
Habt ihr euch verliebt?, fragte der nächste Brief.
Smutek hielt stoisch seinen Unterricht am Ufer dieser Konversation, die auf unklare Weise die ganze Klasse in Unruhe zu versetzen begann wie Leittierschnauben eine Herde von Fluchtwesen. Jemand fragte, warum Musil den heraufziehenden Antisemitismus im Hause Fischel nicht strenger verurteilt habe. Smuteks Antwort geriet schärfer als beabsichtigt: Wisst ihr, wen oder was ihr heute verurteilen solltet? In zwanzig oder dreißig Jahren wird man euch dafür zur Rechenschaft ziehen und sagen, ihr hättet es wissen müssen!
Die Klasse schwieg in verständnislosem Schreck. Ada schob den zerknüllten Zettel in die Hosentasche und entnahm ihrem Block ein frisches Blatt. Die nächste Botschaft sollte länger werden.
Für ihn kann ich nicht sprechen. Ich selbst vermute, zu einem solchen Gefühl nicht in der Lage zu sein. Stattdessen besitze ich seismographische Sensoren zur Messung von Kräfteverschiebungen. Das mag dem, was du >Liebe< nennst, verdammt nahe kommen.
Alev war in lethargische Seligkeit zurückgefallen. Seine nächste Antwort ging im Gewand eines letzten Wortes und wurde diesmal nicht den Postdiensten der Mitschüler anvertraut, sondern wie Adas Nachrichten auf dem Luftweg befördert.
Wie dem auch sei. Unser kleines Gesellschaftsspiel läuft stabil in vorausberechneter Bahn. Du erscheinst Freitag zur gewohnten Zeit am gewohnten Ort. Ich muss dich nicht daran erinnern, dass du genau wie Smutek meinem Grabesschweigen Dank schuldest.
Im Slalomkurs entzifferte Ada die Zeilen um eine Menge Rechtschreibfehler herum. Sie bekam Lust, Smutek zu einem Streit über historische Schuld herauszufordern und ihm die Frage zu stellen, ob den Menschen eine Pflicht zum Erkennen der Wahrheit treffe. Sie selbst hatte die wahren Verhältnisse von Anfang an erkannt und geflissentlich missachtet: Das Dilemma umfasste zwei, nicht nur einen Gefangenen. Möglicherweise befand sich das Spiel, von dem sie geglaubt hatte, dass es längst auf vollen Touren laufe, erst in seiner Anfangsphase. Vielleicht hatte
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