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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman
Autoren: Juli Zeh
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meinem Schreibtisch lagen. Herr El Qamar gehörte als Heranwachsender vor die Jugendgerichtsbarkeit, und ich wollte sie beide vor meinem Pult. Der andere konnte sich freuen, vor ein TeenieGericht geladen zu werden. Nachdem die halbe Belegschaft der betroffenen Erziehungsanstalt ihr Interesse an der Verhandlung bekundet hatte, lehnte ich einen Antrag auf Zulassung der Öffentlichkeit ab. Vor den ordentlichen Gerichten wäre es zu einem Schauverfahren gekommen.
    Die Beschuldigten hatten nicht in Untersuchungshaft gesessen. Sie werden von ihren Verteidigern erfahren haben, dass die kalte Sophie sich anschickte, ihnen den Prozess zu machen. Ich kann es vor mir sehen, wie die Anwälte die Köpfe wiegten und mit den Zeigefingern wackelten. Ich will Sie nicht beunruhigen, aber das sieht schlecht für uns aus. Gewiss ahnte niemand, dass es ein Glücksfall war. Gerechtigkeit gibt es in der Hölle. Im Himmel herrscht Gnade.
    Vor Gericht und auf hoher See sind wir in Gottes Hand
    S mutek war im schwarzen Anzug gekommen, hatte das Haar an den Kopf gestriegelt, hielt den Blick gesenkt und wirkte in dieser Aufmachung wie ein Konfirmand, der sich beschämt in die Kostümierung eines Erwachsenen schickt. Alev saß zwei Rechtsbeistände weiter links auf der Anklagebank, trug seine beige Hose, italienische Lederschuhe und das übliche Hemd. Knapp unter den Augen verdeckte ein Pflaster die Spuren der zweiten Nasenbeinoperation. In der Mitte der Stirn saß ein aus zwanzig Stichen gezeichnetes Lambda und würde ihm fürs Leben erhalten bleiben. Um kleinere Kopfverletzungen verarzten zu können, wurde sein Schädel im Krankenhaus regelmäßig geschoren und saß als staubfarbener Himmelskörper zwischen den Schultern, brutal, bemitleidenswert, von Jodflecken übersät. Die Augen hielt Alev halb geschlossen, als stünde er, widerstrebend wie ein Katzenjunges, überhaupt zum ersten Mal im Begriff, der Welt ins Gesicht zu schauen. Kinn und Kiefer waren violett verfärbt und schienen von Fäulnis befallen, als wollte Alev bei lebendigem Leib vom Hals her verwesen.
    Die schlimmsten Verwüstungen aber verbarg er hinter geschlossenen Lippen. Drei Zähne fehlten, zwei waren gebrochen, es mussten noch Wochen ins Land gehen, bevor das Trümmerfeld in seinem Mund geräumt und mit dem Wiederaufbau begonnen werden konnte. Als zwei Zivildienstleistende nach Smuteks anonymem Anruf das flach am Boden liegende Opfer gefunden und auf eine Bahre gehoben hatten, war der Kopf zur Seite gekippt und hatte einen solchen Sturzbach von Blut durch Mund und Nase entlassen, dass die beiden Männer sich auf die Knie warfen und vor der Turnhalle im Kies umherkrochen, als suchten sie eine verlorene Münze. Schließlich fanden sie etwas, das, rundum mit Sand paniert, einer kleinen, in sich zusammengezogenen Nacktschnecke ähnelte. Sie wickelten es in ein Taschentuch und brachten es dem behandelnden Arzt, der es betrachtete und in den Mülleimer unter dem Waschbecken warf. Das unscheinbare Stück Fleisch hatte sein Leben bereits ausgehaucht, und mit dem Ausschwingen des weißen Plastikdeckels war die Beerdigungszeremonie für Alevs zweitschnellste Waffengängerin vollzogen.
    Die schnellste jedoch war am Leben, saß vor der Tür des Gerichtssaals und wartete darauf, in den Zeugenstand gerufen zu werden.
    Alev hatte herrisch darauf bestanden, am frühestmöglichen Verhandlungstermin teilzunehmen. Die Ärzte hatten es schließlich mit spöttischem Achselzucken erlaubt: Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Am Wandstück zwischen den Fenstern lehnte ein Paar Krücken. Langsam, in umgekehrtem Lambdazismus jedes >L< als schweizerisches >Ch< aussprechend, erklärte er sich für verhandlungsfähig. Als er hinzufügte, dass er in freudiger Erwartung dem abwechslungsreichsten Nachmittag seit acht Wochen entgegensehe, hob die kalte Sophie beide Augenbrauen, geschwungen wie Schwalbenflügel vor einem Sonnenuntergang, und schüttelte die glattblonde Kurzhaarfrisur. Die Unbekümmertheit dieser Geste ermutigte Smutek, seinem Opfer endlich ins Gesicht zu sehen. Er beugte sich in der Bank ein Stück vor, ihre Blicke trafen sich, sie nickten einander zu und schauten flink wieder zur Seite. Kein Hass. Keine Feindschaft. Nur Zerstörung, schweigende Ruinen. Ruhe nach dem Sturm und ein bisschen Verlegenheit wegen der rückhaltlosen, ungeschminkten körperlichen Veränderung. Alevs seltsame, auf Wildwechseln daherkommende Schönheit, der Eindruck von unerhörter Glücks- und Leidensfähigkeit und
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