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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman
Autoren: Juli Zeh
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Semester schreibt zwanzig Seiten zu einem kurzen Paragraphen, um ihn auf einen Fall applizieren zu können, und hat dabei lange nicht alles von Relevanz erwähnt. Die Versöhnung von Regel und Realität bedarf langer Verhandlungen. Am Ende steht der Schlichter wieder allein. Die Masse möglicher Ergebnisse lässt sich eingrenzen. In Zweifelsfällen aber bleibt ihm nichts übrig, als in sich selbst zu forschen.
    Und was findet er bei seinen Nachforschungen in jenem mythischen Selbst? Ein filigranes Geflecht aus Vorstellungen, was Gut und was Böse sei. Jede Menge Bibel, gleich, ob man gläubig ist. Grimms Märchen, egal, ob man sie gelesen hat. Sigmund Freud, Nationalsozialismus, Adorno, Postmoderne und dazu das Bewusstsein, dass alles sich ändert und man seine Gegenwart ebenso wenig begreifen kann wie ein Zahnrad das Getriebe, in dem es sich dreht.
    In diesem ethischen Urschlamm steht der Schiedsrichter bis über beide Knie und muss darauf vertrauen, dass durch seinen Kopf, seine Hände und seine Lippen niemand Geringeres als die Menschheitsgeschichte spricht. Gut, sagten meine Eltern. Dieser Urschlamm ist Weisheit, wir haben es immer gewusst. Es gab keinen Grund mehr, ihnen zu widersprechen.
    Nennt es, wie ihr wollt. Interessanter ist die Frage, was geschieht, wenn ein Richter einen Fall sorgfältig prüft, die einschlägigen Normen findet und auslegt, den Sachverhalt subsumiert, Abweichungen und Ausnahmen durchdenkt und widerstreitende Theorien in Einklang bringt, und wenn er am Ende in sich hineinhorcht, um ein Urteil zu finden, und es antwortet ihm - nichts! Er wird wild zu blättern beginnen. Den Fall noch einmal prüfen. Einen Kollegen befragen. Drei Tage Urlaub nehmen, an etwas anderes denken, das Ganze in Ruhe von vorn beginnen. Und erneut zu keinem Ergebnis gelangen.
    Ein solcher Richter hängt fest. Er steckt in einer Gletscherspalte zwischen den Zeitaltern, die sich erst wieder schließen kann, wenn eins das andere vollständig ersetzt haben wird. Altes geht zugrunde, ohne dass gleich etwas Neues entsteht. Seelenruhig verabschiedet die Menschheit eine Weltordnung, ohne sich um die Inbetriebnahme einer neuen zu kümmern.
    Das Leben, heißt es simpel und tiefsinnig, müsse weitergehen. Wenn wir uns darauf beschränken, den Verlust eines Glaubens zu diagnostizieren und das entstandene Vakuum zu beweinen oder zu feiern, wird dieses Leben beim Weitergehen hochbeinig über die Leerstellen hinwegsteigen und sich als Brücken Gesetzmäßigkeiten errichten, deren Bausubstanz >Pragmatis-mus< heißt und mit der Ideenwelt so wenig zu tun hat wie ein Kleiderbügel mit der neuen Sommerkollektion. Der Pragmatismus unterteilt Menschen, Dinge und Gedanken nach ihrer Funktionstüchtigkeit. Er lässt groß und klein, schön und hässlich, alt und jung und überhaupt alle Gegensatzpaare aufeinander los, kürt den Sieger als das Gute und dient dabei dem ältesten und primitivsten Instinkt: dem Selbsterhaltungstrieb. Die Natur ist pragmatisch. Jedes Tier ist pragmatisch. Der Mensch ist es dort, wo ihm die Ideen ausgegangen sind.
    Man betrachte die Ozeane. In ihnen lebt eine weit höhere Anzahl von Wesen als auf dem Festland, die Nahrungsgrundlagen sind knapp und ungleichmäßig verteilt. Unter Wasser gibt es keine Gesetzbücher, keine Richter, keine Gefängnisse, keinen Anwalt und keine Polizei. Alles ist Kampf, nichts Krieg. Die Artenvielfalt verringert sich nicht, die Populationen bleiben im Gleichgewicht, das große Ganze funktioniert, während das Einzelwesen sich nimmt, was es braucht, und nichts darüber hinaus. Dieses Wunder bewirkt der Pragmatismus. Ein Tier muss an nichts glauben außer an den unsinnigen Sinn des Überlebens. Allein, der pragmatische Mensch unterscheidet sich vom pragmatischen Tier in einer bedeutenden Einzelheit. Sein Spieltrieb erlischt nicht mit dem Eintritt der Geschlechtsreife. Sein Spieltrieb lebt ewig. Ob das den menschlichen Pragmatismus zu einer gefährlichen Einrichtung macht - ich vermag es nicht zu sagen.
    Jedenfalls werde ich nicht vor den Völkern Gog und Magog herlaufen, um die Leute vor dem Weltuntergang zu warnen. Ich werde nicht öffentlich darauf hinweisen, dass es vielleicht pragmatische Urteile gibt, nicht aber pragmatische Gerechtigkeit. Auch ich bin ein Kind meiner Zeit und darf leichtsinnig hinnehmen, was mit uns geschieht. Hunderttausende denken, dass einer allein nichts ändern könne, und sie haben verdammt noch mal recht.
    Ich verband die Verfahren, kaum dass die Akten auf
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