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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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angegilbten Kronen der Bäume im Schulpark entdeckte Smutek ein silbernes Stück Rhein. Der alte Gründerzeitbau bot ausreichend Fallhöhe für einen sicheren Selbstmord, und allein im letzten Jahrzehnt hatten sich zwei Schüler und ein Erzieher diesen Umstand zunutze gemacht. Die Vorfälle lagen vor Smuteks Zeit. Man hatte die Fenster nicht vergittert. Wer sich wirklich umbringen wolle, pflegte Teuter zu sagen, der bringe sich um. Ein Gitter oder Schloss würde ihn nicht davon abhalten.
    An klaren Morgen sorgte die Luftfeuchtigkeit über dem Fluss für wahrhaft pazifische Sonnenaufgänge, und Smutek wünschte sich seit seinem ersten Arbeitstag, einmal zu früher Stunde mit seinem Schneewittchen auf dem höchsten Giebel von Ernst-Bloch zu sitzen und zuzuschauen, wie der rote Lichtball hinter dem Siebengebirge in den Himmel stieg. Sie könnten eine Flasche Schampus trinken und sich hoch über den Dächern der deutschen Ex-Kapitale lieben.
    Über solchen Überlegungen vergaß Smutek seine Missstimmung und fing an, leise mit dem Atem zu pfeifen, eine willkürliche Abfolge von Tönen, wie er es immer machte, wenn er ein Ventil für verdrängten Ärger brauchte. Das Schrillen der Schulklingel brachte die Menschenmuster auf dem Hof in Bewegung wie die Felder eines Kaleidoskops. Die Schüler sortierten sich zu drei Strömen, die in die verschiedenen Eingänge des Gebäudes mündeten. Vier Personen blieben übrig und sahen aus wie ein Grüppchen Zugvögel, das den Anschluss an die Formation verloren hat und über eine neue Reiseroute berät.
    Auf der niedrigen Mauer, die den Hof der Oberstufe vom Bereich der Jüngeren trennte, saß eine Prinzessin mit großer Lockenmähne, in der Smutek die selbstbewusste Johanna erkannte. Sie wurde von drei Jungen aus der Fraktion der Tausendschönen umstanden, deren Schlangenlederschuhe spitz unter den Beinen der Schlaghosen hervorsahen. Sie trugen pastellfarbene Hemden, die sie straff unter die Gürtel gesteckt hatten, und folgten im Ganzen einer Modeströmung, die ihre hartnäckigsten Verfechter dazu brachte, in Röcken herumzulaufen und sich die Augen zu schminken. Von diesen dreien kannte Smutek keinen mit Namen.
    Die Prinzessin erzählte etwas, wozu sie alle vier Gliedmaßen benötigte. Aufgeregt warf sie jeden Augenblick das Haar zurück, als wäre es eine Plage, die sich trotz aller Bemühungen nicht vertreiben ließ. Ihre Stimme wehte in unverständlichen Fetzen zu Smutek herauf. Die Jungen wiegten sich beim Zuhören wie Abfahrtsläufer in den Hüften, lachten und wurden wieder ernst, nickten abschließend und verbündeten sich durch eine Folge von Handschlägen, bei denen sie schnell die Finger ineinander verhakten. Zum Abschluss berührten sie sich gegenseitig mit den Stirnen.
    Eine hübsche Choreographie. Smutek mochte solche Rituale, die jahrelang das Leben der Jugendlichen bestimmten, um dann nach dem Abitur mit einem Schlag keine Rolle mehr zu spielen. Man musste nur eine Gruppe von Menschen zusammenstecken, und sogleich erfanden sie Regeln, Trachten und Traditionen und hatten im Handumdrehen einen halben Staat gegründet. Was unten besprochen worden war, interessierte ihn hingegen nur am Rande. Er glaubte, erst in dem Moment ein guter Lehrer geworden zu sein, als er etwas erfand, das er >wohlwollende Neutralität getauft hatte.
    Als er sich vom Fenster abwandte, verspürte er kein Bedürfnis mehr, über seine Berufswahl nachzudenken. Für heute fühlte er sich im Reinen mit sich selbst und mit der Welt in ihrer ewigen, formelhaften Wiederkehr.
    Eine Prinzessin schlägt zurück
    N iemand weiß, wie oft er im Jahr, in der Woche oder gar in der Stunde Zeuge von Vorgängen wird, die eine Vorbereitung, ein Nachspiel oder einen kleinen Ausschnitt eines Ereignisses darstellen, das schrecklich, vielleicht sogar tödlich enden mag, dessen Einzelteile aber für sich genommen nicht das Geringste zu sagen haben. Unsere Unfähigkeit, solche Fragmente zu deuten, schützt uns vor der Schuld. Nicht einmal Ada, hätte sie von Smuteks unbemerkter Anwesenheit bei der geschilderten Beratung gewusst, wäre später auf die Idee verfallen, ihm einen Vorwurf daraus zu machen, dass er sich vom Fenster abgewandt hatte und auf zwei schnellen Beinen, die einander ständig zu überholen trachteten, die Treppe hinuntergerannt war, um einigermaßen rechtzeitig zur nächsten Unterrichtsstunde zu kommen.
    In der letzten kleinen Pause vor Schulschluss saß Ada auf dem Wasserkasten in einer Kabine der

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