Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
Oberkörper zwängte der Kleine sich zwischen den anderen hindurch und kam so dicht vor Ada zum Stehen, dass er die Ellenbogen auf ihre Knie hätte stützen können.
    »Im Biounterricht haben wir gelernt«, sagte er, »dass der Sehnerv sich in seltenen Fällen genau hier befindet.«
    Mit beiden Händen griff er Ada an die Brust, die groß genug war, um auch ohne einschlägige Erfahrung den relevanten Teil zu erwischen, und drückte zweimal zu. Ada spürte, wie ihm eine Brustwarze zwischen die Finger geriet, und der aufsteigende Ekel verschloss ihr für einen Moment Augen und Mund. Was widerwärtiger war, die Berührung selbst oder die Tatsache, dass der Junge eine derart abstruse Überleitung gebraucht hatte, um zur Tat zu schreiten, ließ sich auf die Schnelle nicht entscheiden. Die Frage wurde gleichgültig, als er losließ, einen halben Schritt zurücktaumelte und mit ebenso erschrockenem wie verzücktem Gesichtsausdruck fast gegen seine Hintermänner gefallen wäre. Er sah aus wie jemand, der gerade den größten Erfolg seines Lebens errungen hat.
    »Was wollt ihr?«, fragte Ada. Sie hatte keine Miene verzogen und hielt ihre Atmung so angestrengt unter Kontrolle, dass ihr schwindlig wurde vom Sauerstoffmangel im Gehirn.
    »Erst mal einen Schauplatzwechsel«, sagte einer der anderen, trat vor und schob den Kleinen beiseite. Der Dritte tat es ihm gleich. Sie fassten ihr links und rechts unter die Achseln, zogen und hoben sie vom Wasserkasten und stellten sie auf die Beine. Ada nutzte die Gelegenheit, um unbemerkt tief Luft zu holen. Sie stemmte beide Füße in den Boden, der zu glatt war, um Widerstand zu bieten, legte ihren Angreifern die Arme um die Taillen, krallte ihnen jeweils fünf Finger ins Rippenfleisch und wandte, als alles nichts half, den Kopf, um dem Rechten ins Gesicht zu spucken. Dieser lächelte, während ihm der Speichel an der Nase hinunterrann, und wischte sich mit einer ruckartigen Kopfbewegung an der eigenen Schulter ab. Der Griff in die Rippen schien keinen der beiden zu stören; vielleicht minderte Adrenalin das Schmerzempfinden, oder, was schlimmer gewesen wäre, sie mochten es, wie Adas Finger ihnen Hemd und Haut zusammenquetschten.
    Sie konnte die Aufregung der Jungen riechen, sie roch auch ihre eigene Angst. Es war schwer zu glauben, dass ihr an einem gewöhnlichen Vormittag im Herzen des Schulgebäudes etwas wirklich Schlimmes zustoßen könnte. Trotzdem begann die Tatsache zu wirken, dass diese Jungen, ungeachtet Adas nicht geringer körperlicher Kräfte, ohne weiteres in der Lage waren, sie mit sich zu schleifen. Wie eine sperrige Schaufensterpuppe hing sie zwischen ihnen, schwer, aber nicht groß, mit Beinen, die im Türrahmen festklemmten und beiseite getreten wurden, mit Armen, die sich ständig irgendwo verhaken wollten.
    Der Kleine verließ die Mädchentoilette als Erster und gab ein Victory-Zeichen hinaus auf den Gang. Ada sah Joe im Durchgang stehen, der vom Hauptflur in den Toilettenbereich abzweigte, und sah, wie Joe die Siegergeste erwiderte. Sie überlegte, ob sie schreien sollte. Sofort wären ein Lehrer oder ein paar Schüler herbeigestürzt, Ada hörte die Stimmen der Leute, die sich nicht weit entfernt vor den Klassenzimmern herumtrieben. Ihre Angreifer hätten sich Ärger eingehandelt für einen fehlgeleiteten und nicht besonders lustigen Scherz.
    Ada schrie nicht. Etwas hielt sie davon ab, vielleicht Stolz und das Bedürfnis, einen Aufruhr zu vermeiden. Vielleicht war es auch Joe, die elegant und entspannt an der Ecke zum Flur lehnte, als wartete sie auf eine Freundin. Sie schüttelte die Ringellocken und sah so niedlich aus mit ihren kleinen Händen und Füßen und dem kleinen, selbstbewussten Kinn, dass Ada, während sie im Abstand von drei Metern vorbeigezerrt wurde, den aberwitzigen Wunsch verspürte, ihr zuzulächeln.
    Sie wurde in die Jungentoilette verfrachtet. Während sie sich eine Weile an der Türklinke festhielt, dachte sie darüber nach, ob ihre Angreifer tatsächlich damit kalkuliert haben konnten, dass ein psychologischer Affekt das Opfer am Schreien hindern würde. So viel Raffinesse war ihnen nicht zuzutrauen. Wahrscheinlich hatten sie gar nicht darüber nachgedacht. Wahrscheinlich verteilte der Zufall mal wieder große Kartoffeln an dumme Bauern.
    Es stank. Es stank auf eine Weise, die unmissverständlich klar machte, dass Putzen nicht mehr half. Der Geruch nach Urin und Schlimmerem kam aus den Rohren, aus dem Inneren der Pissoirs und aus allen Ecken

Weitere Kostenlose Bücher