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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Mädchentoilette, hatte die Füße auf dem geschlossenen Klodeckel abgestellt und entzündete eine der Zigaretten, die sie während der vergangenen Unterrichtsstunde auf Vorrat gerollt hatte. Eine Diskussion im Grundkurs Politik ließ sich nur ertragen, solange die Finger in Bewegung blieben.
    Sie war allein. Für gewöhnlich versammelten sich in der Nachbarkabine ein paar andere Mädchen und Jungen, die, eng zusammengedrückt wie in einem Fahrstuhl, eine immense Qualmwolke erzeugten und dabei Unterhaltungen führten, deren Verlauf und Inhalt von der Tatsache bestimmt wurden, dass nebenan jemand zuhörte. Rauchen auf der Mädchentoilette im vierten Gang hatte Tradition. Bei den Jungen stank es, und in den unteren Etagen wurden die Klos von Kleinen frequentiert, die in jeder Pause pinkeln mussten.
    Vor etwa zwei Jahren hatte Ada das Rauchen angefangen, um andere Menschen nach einer Zigarette fragen oder der Bitte um eine solche nachkommen zu können. Dann begann sie zu drehen, weil es billiger und stilvoller war, und besaß seitdem ein Tabakpäckchen, von dem niemand etwas wollte. Es machte ihr nichts mehr aus. Seit Selma in Bosnien verschwunden war, hatte sie mit dem sozialen Leben abgeschlossen, und die Enge der Klokabine ertrug sie ohnedies nur allein.
    Kaum dass sie die ersten Züge genommen hatte, klopfte es an der Tür. Mit ihren vierzehn Jahren hatte Ada die Entdeckung durch einen Lehrer mehr zu fürchten als jede andere. Sie hatte schon lautlos den Klodeckel geöffnet und wollte die Kippe hineinfallen lassen, als sie die flüsternde Stimme eines Schülers vernahm. Sie gehörte zu niemandem, den sie kannte.
    »Nebenan ist zu. Können wir rein?«
    Ada war so gut wie sicher, dass niemand die Nachbarkabine belegte, aber eine Weigerung hätte allen Gesetzen des Dschungels widersprochen. Als sie den Riegel zurückgeschoben hatte, schwang die Tür auf.
    Drei Jungen standen davor, so eng beieinander, als wollten sie alle zugleich durch die schmale Öffnung hinein, und rührten sich doch nicht von der Stelle. Zu dritt starrten sie in die Kabine wie in einen geöffneten Raubtierkäfig, extra hergekommen, um sich von Ada bedrohen zu lassen, die vielleicht nur auf die erste Bewegung wartete, um zum Sprung anzusetzen. Keiner von ihnen hatte eine Zigarette zwischen den Lippen oder hinter dem Ohr. Die pastellfarbenen Hemden flirrten wie eine optische Täuschung, drei Paar spitzer Schuhe wiesen mit nach oben gebogenen Schnäbeln auf den Wasserkasten. Unwillkürlich spannte Ada die Rückenmuskeln und spürte die Kälte der gekachelten Wand.
    »Ada«, sagte der Kleinste von ihnen, der sich recken musste, um über die Schultern seiner Vordermänner zu sehen, »wie geht es deinem Sehnerv?«
    Auf diese alberne Frage folgte ein sekundenlanges Schweigen. Wenngleich die Auseinandersetzung mit Joe kaum drei Stunden zurücklag, fand Ada nur mühsam den Punkt, auf den sich die Worte bezogen. Für sie war Vergangenheit gleich Vergangenheit; was soeben geschehen war, rückte in den Status des Irrealen und fiel ein paar Meter tief in ein großes Becken, für das die Bezeichnung >Gedächtnis< bei weitem zu schmeichelhaft gewesen wäre. Es handelte sich mehr um ein Auffanglager für beliebige, meist unvollständige, zerbrochene und in sich verdrehte Erinnerungen, um einen Schrottplatz des Gewesenen, den Ada nur widerwillig besuchte, wenn sie gezwungen war, nach einem bestimmten Teil zu forschen, das sich plötzlich als unabkömmlich zur Vervollständigung der Gegenwart erwies. Wie lang das gesuchte Ereignis zurücklag, spielte nur insoweit eine Rolle, als Ada im vorderen Teil der Müllkippe wühlte, wenn sie es innerhalb der letzten vier Wochen vermutete.
    Aber auch als sie begriffen hatte, worauf die Anspielung sich richtete, verzichtete sie auf eine Antwort. Die Frage diente allein dazu, ein wenig Zeit zu gewinnen. Es war diese Unsicherheit ihrer drei Besucher, die Ada am meisten irritierte.
    Woher der Kleine ihren Namen kannte, während sie sicher war, den seinen nie gehört zu haben, ließ sich nur vermuten. Wenn die Vermutung stimmte, hatte sie ein Problem, und es galt abzuwarten, wie groß das Problem war und von welcher Beschaffenheit. Sie hielt die Augen fest auf die Stirn des Jungen gerichtet, der am nächsten stand.
    Nachdem der Kleine sich zum Wortführer aufgeschwungen hatte, musste er weitermachen. Längst war es unmöglich geworden, noch eine Weile untätig herumzustehen und sich danach wieder zu verabschieden. Mit beigedrehtem

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