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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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den Menschen allein seiner Angst überlässt.
    Einen grotesken Augenblick lang war Ada froh um das, was geschehen war.
    Ein Prinz betritt die Szene
    W enige Minuten später war die Euphorie aufgebraucht und vergangen. Hirnchemie. Ada fühlte sich elend. Die Unterrichtstunde war zur Hälfte vorbei, drinnen saß Joe. Schon morgen würde Ada ihr und den drei Musketieren mit Gleichgültigkeit begegnen, im Moment aber klemmte das Visier, und sie fühlte sich den Blicken nicht gewachsen. Sie wollte nicht nach Hause, wo die Mutter herumsaß und ihren Hass gegen den Brigadegeneral zu einer Prachtbestie mästete, die ihr im Scheidungsprozess zur Seite stehen sollte. Sie würde Fragen stellen. In der Stadt war man immer der Neugier der Menschen ausgesetzt, die Kinos hatten noch nicht geöffnet, und auf dem Klo hätte sie es auch nicht länger ausgehalten. Am schlimmsten war die plötzliche Gier darauf, mit jemanden zu sprechen. Nicht notwendig über das Ereignis. Über irgendetwas. Schröder. Den Irak. Über den neunzigsten Geburtstag des westeuropäischen Werteverlusts. Dieses Verlangen hatte sie so lange nicht verspürt, dass es identifiziert und kategorisiert werden musste wie eine seltene, vom Aussterben bedrohte Distel. Beim Versuch, es wie Unkraut auszureißen, stach es in die Hände.
    Ada widerstand dem Impuls, in gewohnter Manier die Türklinke niederzuhalten. Gedämpfte Stimmen drangen heraus. Ein Schüler las stockend aus einem lateinischen Text und hatte immer noch Schwierigkeiten mit diesem Quellcode von Sprache. Sie überlegte, das Lehrerzimmer aufzusuchen und nach Höfi zu fragen, ihn holen zu lassen, es sei dringend. Aber die Vorstellung, ihn unter einem Vorwand ins Gespräch zu verwickeln, ging nicht auf. Ihre Arme sanken herab, als mit der Leuchtintensität einer Neonschrift eine Wahrheit aufstieg, die sie schon längst kannte und zum Objekt ihres garstigen Stolzes erhoben hatte: Auf dem ganzen Planeten existierte kein einziges, noch so kleines und dummes Wesen, mit dem sie sprechen konnte, wenn sie etwas zu sagen hatte. Es gab kein Haustier, keine Stelle am Fluss, nicht mal eine Topfpflanze, der sie sich verbunden fühlte. Die Knie wurden weich, der Schock meldete sich zurück.
    Als sich von drinnen Schritte näherten, schaffte sie es gerade noch, beiseite zu treten. Die Klinke wurde gedrückt, die Tür schwang auf. Reflexartig hob sie einen Zeigefinger an die Lippen und bekam große, bittende Augen. Da stand Olaf, zuckte zurück, verstand, schloss betont gelassen die Tür und lehnte sich neben sie an die Wand.
    Er hatte seinen Platz in einer Bank, die rechtwinklig an Adas Pult stieß. Schräg an seiner Nase vorbei schaute sie im Unterricht zur Tafel. Seine Anwesenheit hatte sie nie gestört. Er gehörte zu den Unauffälligen der Klasse und genoss den Status eines parteilosen Beobachters. Er war nicht viel größer als sie, hielt seine langen Haare tief im Nacken mit einem Haushaltgummi zusammen und trug bei jeder Temperatur die gleiche Jeansjacke mit schwarzen Lederbesätzen, mit Fransen auf der Brust und einem großflächigen Sepultura-Logo über dem Rücken. Anscheinend war er mit niemandem in der Klasse befreundet. Die Pausen verbrachte er in der Nähe des Fahrradkellers bei einer Gruppe von Schülern aus verschiedenen Klassen, die ähnliche Jacken und Pferdeschwänze trugen wie er.
    Nun standen sie Seite an Seite, hielten die Arme vor der Brust verschränkt und die Köpfe einander zugekehrt und musterten sich in aller Ruhe. Olaf wirkte glatt, wie frisch aus der Packung genommen. Sein kräftiger Bartwuchs, den er einmal pro Woche auf Drei-Tage-Länge stutzte und dann wieder sich selbst überließ, passte genauso wenig zur weichen Haut wie die dunklen, starken Brauen zu seinen hellen Augen. Dieses Mädchengesicht in Heavy-Metal-Verpackung hatte etwas Rührendes. Weil sie sich so lange unverwandt angesehen hatten, begann Olaf zu lächeln, und Ada bekam Lust, ihn bei der Hand zu nehmen und zum nächsten Spielplatz zu laufen, sich neben ihn auf den Rand eines Sandkastens zu setzen und eine Baustelle zu eröffnen.
    »Was ist los?«, flüsterte er.
    »Ich muss mit dir reden«, flüsterte sie zurück.
    Es klang, als hätte sie vor der Tür gestanden, um darauf zu warten, dass er endlich herauskäme. Er schien nicht überrascht, kippte das Handgelenk und schaute auf eine überdimensionierte schwarze Plastikuhr.
    »Jetzt sofort?«
    Sie nickte. Er legte eine Hand ans Kinn, rieb sich die Bartstoppeln, was ein

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