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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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deprimierten Momenten >Inkompatibilität<. Seine Eltern waren nicht nur miteinander verheiratet, sondern lebten auch noch zusammen, und Olaf fragte sich häufig, ob hierin der Grund für seine Kommunikationsschwäche zu suchen sei.
    Ansonsten stammte er aus durchschnittlichem Hause mit durchschnittlichem Einkommen und durchschnittlicher Intelligenz. Sein Vater arbeitete als Bauingenieur und die Mutter, wenn Olaf sich nicht täuschte, als freischwebende Übersetzerin. Manchmal kam sie in sein Zimmer, beugte den Kopf, um ihm den streng gezogenen Mittelscheitel und die einzeln daraus hervorstehenden Haare zu zeigen, und sagte:
    »Guck mal, jetzt wachsen sie alle nach. Bei dem Stress in letzter Zeit sind sie ausgegangen, aber jetzt kommen sie wieder. Bald habe ich meine Löwenmähne zurück.«
    Olaf nickte und gab vor, sich zu freuen. Er kannte nur ihr durchschnittlich dicht stehendes, in keiner Weise mähnenhaftes Haar.
    Seine ältere Schwester, die Olaf sehr liebte, hatte alle in der Familien-DNA zur Verfügung stehende Phantasie und Tatkraft auf sich gezogen wie ein Magnet, der in eine Schachtel mit Reißzwecken gefallen ist, so dass weder für Olaf noch für die wenigen Cousins und Cousinen etwas übrig blieb. Auch die Schwester war divergent, aber bei ihr erzeugte das, was ihn phlegmatisch machte, einen Rausch von Aktivitäten. Neben dem Medizinstudium komponierte sie Klaviermusik. Am besten gefiel ihm, dass sie Menschen hasste und von diesem Grundsatz kaum Ausnahmen machte. Seit sie ausgezogen war, gab es niemanden mehr, mit dem er sich über den toten Gott in einer toten Welt unterhalten konnte.
    Die Rockergruppe war etwas anderes, mit ihr bildete Olaf eine Band, eine Clique, vielleicht sogar eine Gang. Sie sprachen über Musik und Politik und, sofern ihr Leader dabei war, über Musiktheorie und Politikwissenschaft. Der Leader hieß Rocket, war mit seinen achtzehn Jahren drei Jahre älter als Olaf und spielte alleine besser als der Rest von ihnen zusammen. Seit Rocket in frühester Kindheit von seinen Eltern zum Geigenunterricht gezwungen worden war, zeigte er respektables musikalisches Talent. Er hatte auf Gitarre umsteigen dürfen, als der Vater gestorben war. Olaf hatte nicht vor vielen Dingen Angst, wohl aber vor dem Tag, an dem Rocket sein Abitur in Händen halten und von Ernst-Bloch verschwinden würde. Rockets konsequent schwache Leistungen in allen Fächern ergaben einen Hoffnungsschimmer am Horizont.
    Warum Olaf sich so sehr gefreut hatte, nach den Sommerferien diese Neue in seiner Nähe sitzen zu sehen, war ihm erst nach einigen Tagen bewusst geworden: An ihr beobachtete er etwas, das er auch in sich selber spürte. Sie sprach wenig und würde es nicht leicht haben. Sie kam auf eine seltsam blasierte Weise nicht klar. Obwohl sie nichts Ungewöhnliches an sich hatte, außer dass sie seit Monaten nicht beim Friseur gewesen war, sich nicht schminkte und Klamotten trug, die ebenso gut zu einem sechsjährigen Mädchen wie zu einem zwanzigjährigen Mann gepasst hätten, begegnete die Klasse ihr mit Misstrauen, in manchen Augenblicken mit Feindseligkeit. Egal, was ihr entgegengebracht wurde, sie starrte verschwommen zurück. Ein paarmal hatte Olaf sie angesprochen und sich dabei gefühlt, als versuchte er, einem Fisch hinter der Glaswand des Aquariums per Zeichensprache das große Einmaleins beizubringen. Ja, sie lieh ihm einen Stift. Ja, er konnte die Matheaufgaben abschreiben. Klar, Höfi war ein guter Lehrer, wieso?
    Menschen brauchen einen Vorwand, um sich miteinander beschäftigen zu können. Ada lieferte keinen Vorwand, und Olaf hatte allen Erfindungsreichtum pränatal an die ältere Schwester verloren. Seit dem Moment jedoch, da er auf dem Flur neben sie getreten war, liefen die Dinge in vorgegebener Spur, wie eine Bowlingkugel, die ihre Bahn verlassen hat und in der seitlichen Rinne weiterrollt, mit Sicherheit nicht in der Lage, einen Treffer zu erzielen, dafür aber gleichmäßig und vorhersehbar. Olaf spürte, wie er unablässig das Richtige sagte und tat.
    Am nächsten Tag fand er sich ganz von selbst eine Viertelstunde früher vor dem Klassenraum ein, trieb sich auf dem Flur herum und hielt Wache für den Fall, dass Ada nicht wie üblich zu spät zum Unterricht kommen würde, was an diesem besonderen Morgen der Feigheit verdächtig gewesen wäre. Er glaubte nicht, dass sie sich eine derartige Schwäche erlauben würde.
    Er hatte Recht. Noch vor dem ersten Klingeln bog sie um die Ecke, ihre alte

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