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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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falsch, aber das ist mir egal. In so einem Fall würde ich alles für richtig halten. Was auch immer du tust. Und gleichzeitig für falsch.«
    »Ich genieße das Glück, mich ab jetzt in moralfreien Räumen zu bewegen?«
    Sie hatte es als Witz gemeint, er ging nicht darauf ein.
    »Ich sag es mit meinen blutarmen Worten, andere finde ich nicht dafür. Was die Typen getan haben, gehört zu der Kategorie von Schweinereien, die Menschen auf der ganzen Welt das Leben zur Hölle machen. Das ist es, was Höfi meint, wenn er von Kreisläufen aus Angst und Unterdrückung spricht. Ich kann mir weder eine richtige noch eine falsche Antwort darauf vorstellen, verstehst du? Dabei hätte ich sogar Mittel, um dir zu helfen.« Er überlegte einen Moment, und Ada dachte an die langhaarige, raubeinige Bande von Lederjacken, mit der er sich vor dem Fahrradkeller traf. »Aber intuitiv würde ich sagen -vergiss es.«
    Er hatte seine Kurzansprache beendet, Ada nickte und war ihm dankbar für das anschließende lange Schweigen. Als es auch ohne Worte nichts mehr zu sagen gab, standen sie fast gleichzeitig auf.
    »Ich denke, ich werde jetzt nach Hause gehen und meiner Mutter von der Darmgrippe erzählen, die heute auf Ernst-Bloch kursiert«, sagte er.
    Zum ersten Mal lachten sie zusammen, kurz und ein wenig stoßweise, aber sie lachten. Olaf schloss den Keller ab, Ada sah ihm dabei zu. Er gab ihr wieder die Hand.
    »Bis morgen«, sagte er, nichts weiter. Dann trennten sie sich.
    Ein bisschen Olaf
    E s ist nicht schwer zu erraten, dass Olaf schon den einen oder anderen Gedanken an Ada verschwendet hatte, bevor sie mit zerrupften Haaren, einem breiten roten Fleck unter dem linken Auge und Speichelblasen in den Mundwinkeln vor ihm stand und in komischer Geste den Zeigfinger auf die Lippen presste. Nicht dass Olaf eine Freundin gebraucht hätte. Die Mädchenfrage ertrug er mit einem freundlichen Phlegma, das gut als Verstandesreife durchgehen konnte. Dem >ersten Mal< all jener Dinge, die ihm mit ziemlicher Gewissheit im Leben noch bevorstanden, blickte er ohne Aufregung entgegen. Als er zehn Jahre alt wurde, hatte er im Fernsehen, in Magazinen und im Internet die wesentlichen Zutaten des menschlichen Lebens bereits gesehen und auf ihre Beschaffenheit geprüft. Er kannte Kriege, Sex, Liebe, Glück, Unglück, Pornographie, sinnlose oder sinnvolle Gewalt, Folter, Mitleid, Heldentaten, Vergewaltigungen und noch vieles mehr. Homo sapiens hatte vor seinen Augen längst alle makabren Fratzen gerissen, deren er fähig war. Die Menschheit hatte sich als ein Rudel gefährlicher, aus den selbstreinigenden Gehegen von Mutter Natur entkommener Mutanten bewiesen, die sich virengleich vermehrten und im Begriff standen, noch die letzten verbliebenen Ordnungssysteme auf dem Planeten zu zerstören. Olaf kannte die schmalen Trampelpfade des >Man-muss-sein-Bestes-tun< und >Da-kann-man-eh-nichts-machen<, und er wusste um die Maut aus Gleichgültigkeit, die man für ihre Benutzung zu entrichten hatte. Selbst wenn er gewollt hätte, wäre er schwerlich in der Lage gewesen, sich wegen der Frage zu sorgen, wann und wie er seine erste Freundin finden würde.
    Ada hatte seine Aufmerksamkeit erregt, weil sie ihm divergent erschien. >Divergenz< war eins der Fremdwörter, die er regelmäßig gebrauchte, wenn er über die Welt, sich selbst und die Verbindung zwischen diesen beiden Phänomenen nachdachte. Olaf hielt sich keineswegs für etwas Besonderes; seine Heavy-Metal-Kutte und die schwarzen T-Shirts mit grellbunten Aufschriften trug er nicht aus einem Grund, den man vor zehn oder zwanzig Jahren in den Kategorien von Identitätsstiftung, Sozialisierung und Jugendkultur erfasst hätte, sondern weil sie zu der Musik gehörten, die er mochte, und weil andere Klamotten ihm nicht gefielen. Aber >Divergenz< bedeutete >Auseinanderstreben<, und Olaf strebte auseinander.
    Zwischen anderen Menschen und vor allem innerhalb der so genannten Klassengemeinschaft fühlte er sich wie ein Europäer unter Japanern: Alle sahen gleich aus, betrachteten einen als Gaijin, und zum Schluss erfuhr man, dass sie Koreaner waren. Nord, Süd, Ost, West? Karnivor, omnivor oder oligophag? Olaf hatte keine Ahnung. Seine Klassenkameraden gehörten einer anderen Spezies an, er wusste nicht, worüber er mit ihnen reden sollte, und wunderte sich an manchen Tagen darüber, dass sie überhaupt dieselbe Sprache verwendeten wie er. Seine Unfähigkeit, sich als einer von ihnen zu fühlen, war Divergenz - und in

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