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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Ereignisse oft durch die Wiederholung bestimmter Muster angekündigt werden, durch scheinbar zufällige Übereinstimmungen, die immer schneller aufeinander folgen und sich zu etwas verdichten, das alsdann >Geschehen< heißt und längst eingetreten ist, wenn der Mensch sich bequemt, es zu bemerken.
    Rings um den Sportplatz gab es keinen Baum, hinter den er hätte treten können, um seine Betrachtungen etwas weniger exponiert fortzusetzen. Wie ein Pfahl stand Smutek auf freiem Feld und vertrieb die esoterischen Ideen durch eine konzentrierte Analyse von Adas Laufstil. Erkennbar trainierte sie nicht, sondern rannte aus anderen Gründen, vielleicht nur zum Spaß oder um sich abzureagieren, und hielt dabei ein Tempo, das Smutek aber verblüffend hoch erschien. Dabei hatte ihr sicher niemals jemand etwas über professionelles Laufen erzählt. Die halb geschlossenen Fäuste wurden ohne Führung von den kolbenartig arbeitenden Armen vorangestoßen und fassten ins Leere, als verfügte die Luft über Griffe, an denen sie sich vorwärts ziehen konnte. Arme und Beine schwangen energieverschwendend zur Seite aus, und die Gesamtkraft wirkte nicht strikt nach vorn, sondern gleichzeitig nach oben. Ada glich die geringe Länge ihrer Beine durch übergroße Sprünge aus.
    Wie dem auch sei, sie war schnell. Smutek beschloss, ihre Zeit zu nehmen. Als sie das nächste Mal die Ziellinie passierte, sah er auf die Uhr und verglich mit hin und her schnellenden Blicken den Lauf des Sekundenzeigers mit Adas Position auf der Bahn. Sie brauchte kaum sechzig Sekunden für eine Runde. Bei einem Bahnumfang von gut dreihundert Metern lief sie also fast zwanzig Stundenkilometer. Er maß noch vier weitere Runden, bis er es glaubte. Das konnte sie nicht lange durchhalten.
    Weil Ada kein T-Shirt trug, sondern nur einen Sport-BH, der den Busen fest an den Körper drückte, konnte er ihren Körperbau studieren wie bei einem Rennpferd, das sich vor dem Derby im Ring präsentiert. Sie schien gedrungen und ganz und gar nicht zum Laufen geschaffen. Die Hüften waren breit und verjüngten sich kaum zur Taille hin, dominierten die Linien des Oberkörpers und setzten sich regelrecht bis zum Brustkorb fort. Der Bauch war muskulös und vorgewölbt, als müssten zwei Mägen, zwei Därme und zwei Gebärmuttern darin Platz finden. Smutek dachte an die langen Glieder seiner Frau, die mehr als doppelt so viele Jahre zählten und trotzdem mädchenhafter wirkten als Adas archaische Architektur, und stellte zur eigenen Überraschung fest, dass er Ada trotzdem schön fand. Oder einfach nur schnell. Das Stampfen und Springen ihrer Beine übertrug sich wie Rhythmus auf seine Ordnung, er wollte die Jacke abwerfen und lossprinten, ihr nach, sie einholen, den Takt seiner Schritte den ihren anpassen. Er wollte mit ihr Luft einsaugen wie durch einen einzigen Mund, gemeinsam den Punkt erreichen, an dem der Atem sich beruhigt und so mühelos strömt, dass man meint, selbst unter Wasser überleben zu können. Smutek dachte an zwei Pferde, die in weiter Ferne über eine Ebene galoppierten, als wäre der Horizont eine eigens für sie erbaute Straße.
    Ohne es recht zu merken, war er nah an die Laufstrecke herangekommen und stolperte fast über ein Kind, das auf der Wiese saß. Der Dackel des Mädchens begann wütend zu bellen, Ada sah hoch und bremste ihren Lauf, das kleine Mädchen machte sich davon, den aufgeregten Hund an der Leine hinter sich herziehend.
    »Hallo«, sagte Ada, als sie vor ihm stehen blieb. Schweiß dunkelte ihre Hose an den Oberschenkeln, tropfte ihr von der Nasenspitze, glänzte auf Armen und Bauch.
    »Nicht stehen bleiben«, sagte Smutek. »Du wirst dich erkälten.«
    Gemeinsam kehrten sie auf die Bahn zurück und gingen mit großen Schritten nebeneinanderher. Jetzt hatte Smutek den Eindruck, er führe das Rennpferd nach vollbrachter Leistung trocken.
    »Na, vor wem läufst du davon?«
    Er hatte es scherzhaft gemeint und erschrak, als sie ihm das Gesicht zukehrte und an ihm vorbeisah in merkwürdig abgestorbenem Ernst. Unter dem linken Auge hatte sie eine geschwollene, dunkel verfärbte Stelle, die er jetzt erst bemerkte.
    »Wenn Sie fragen wollen, ob ich gegen die Tür gelaufen bin -nur zu. Ich habe Antworten parat.«
    Smutek verstand, nickte und wusste nicht, wie er zum Ausdruck bringen sollte, dass es ihm gleichgültig war, was ihr zustieß, ob ihr Vater sie verprügelte oder ihr Freund oder ob sie tatsächlich gestolpert war, auf der Treppe oder beim Laufen

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