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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Kniescheibe. Etwas fiel zu Boden, ein Glas vielleicht, eine leere Flasche, ein Mensch. Sie trat drei Schritte vor und schlug dem Staatsanwalt, der mit beiden Händen versuchte, das Blut aus seiner Nase zu stillen, die Faust mitten ins Gesicht. Natürlich traf sie seine Hände. Natürlich schützten diese Hände die Nase. Es knirschte. Der Schlagring reflektierte das Diskolicht, Ada schlug wieder zu. Ihr Gegner ging zu Boden. Sie zielte auf seine Schläfen, sie zielte knapp hinters Ohr. Ein Paar Arme fingen sie ein, schlangen sich um die Taille, zehn Finger krallten sich in ihre Faust, drangen ein wie hartnäckige Würmer, lösten den Griff, zogen den Schlagring über die Knöchel. Wie gut sie plötzlich alle zusammenarbeiteten, während sie sonst immer nur gegeneinander waren; wie geschickt sich ihre Handgriffe ineinander fügten, wenn es darum ging, ein Mädchen vom Boden zu heben und in der Luft zu halten, ihre Beine zu fixieren, die um sich traten, ihren Fingernägeln und Zähnen zu entgehen. Endlich ließ Ada sich fallen. Sie verlor keineswegs das Bewusstsein, wollte nur eine Weile auf dem Rücken liegen, die Augen schließen, die letzten Takte der Musik genießen.
    So go on and scream, scream at me, I'm so far away.
    Den Schlagring sah Ada niemals wieder, und eigentlich vermisste sie ihn auch nicht. Am nächsten Morgen erwachte sie mit dem unbestimmten Gefühl, es sei etwas Wunderschönes passiert, dessen sie sich für den Moment nicht entsinnen konnte. Sie lächelte, noch halb im Schlaf. Vielleicht war Weihnachten. Oder Geburtstag.
    I'm going under.
    Ada sang aus vollem Hals. Sie spürte das Vibrieren der eigenen Stimme, zu dem sie nichts beitrug, außer die Kehle weit zu öffnen. Als die Musik sich steigerte bis zu einem ohrenbetäubenden Schlussakkord, riss Ada die Augen auf und rannte über die unsichtbare Brücke zurück in die Gegenwart, aus dem Raum, die Rampe des Fahrradkellers hinauf. Sie fühlte sich schlecht, spreizte die Hände vom Körper, als hätte sie versehentlich in eine klebrige Masse gegriffen. Quer über den Schulhof, Richtung Park. Da gab es wieder etwas, vor dem man davonlaufen konnte. Davonlaufen musste.
    Auf offener Wiese zog sie sich um und betrat die Aschenbahn, lief los, lief ohne Kopfhörer, ohne Musik, eine Runde nach der anderen in steigendem Tempo, mit halb geschlossenen Augen und ohne jeden Gedanken. Nicht weit von der Bahn saß ein barfüßiges kleines Mädchen im sonnenwarmen Gras, schaute Ada zu und fütterte ihren Dackel mit Hornhautfetzen, die sie sich von den Fußsohlen zupfte.
    Smutek sieht eine Schülerin laufen
    S ie lachte ihn nicht aus, als er von seinem Gespräch mit dem Direktor berichtete. Frau Smutek verlangte, dass er Teuters Sätze noch einmal wiederhole, und machte eine ungeduldige Handbewegung, die Smutek noch nie an ihr gesehen hatte. Ihre Finger bewegten sich in der Luft, als ließen sie einen unsichtbaren Rosenkranz um die Hand laufen.
    Es waren schöne Hände, die Nägel sorgfältig gefeilt und poliert, dass sie wie rosafarbenes Plastik schimmerten. Seit der Studienzeit in Berlin hatte Frau Smutek die farbenfrohe polnische Schminksucht gegen intellektuelles Understatement eingetauscht, lackierte die Nägel nicht mehr, ging in lockere Hosenanzüge gekleidet und erlaubte ihrem Haar, nach dem Waschen an der Luft zu trocknen. Nur den roten Lippenstift hatte sie sich bewahrt und frischte ihn mehrmals täglich auf. Smutek war stolz, als einziger Mensch auf Erden ihren ungeschminkten Mund zu kennen, der in Wahrheit viel kleiner war, als er tagsüber wirkte. Wenn Frau Smutek morgens aus dem Bett stieg, beherrschten die dunklen Augen ein Gesicht, in dem alle anderen Farben blass ineinander schwammen.
    Smutek liebte ihre Finger und fand die neue Geste obszön. Er hatte ohnehin Schwierigkeiten, ihre rechte Hand zu betrachten, ohne sich vorzustellen, wie sie seinen erigierten Schwanz umschloss.
    »Wende dich an den Schulträger«, sagte seine Frau.
    Daraufhin setzte Smutek an, ihr noch einmal den Unterschied zwischen Schulleitung und Schulträgerschaft zu erklären. Allein Teuter besaß Entscheidungsgewalt über die Gegenstände des schulischen Alltags.
    »Weiß ich«, sagte seine Frau. »Wie kann ein so großer Mann wie du dermaßen dumm sein?«
    Sie stand vor ihm, während er auf einem Küchenstuhl saß, hatte ein Bein zwischen seinen Knien und die Brust auf Höhe seiner Nasenspitze und fuhr ihm mit beiden Händen durchs Haar, weil sie ihn am meisten mochte, solange

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