Spieltrieb: Roman
durch Lyrics ersetzt werde wie das Theater vom Film und ob die Menschheit durch die Angst vor Veränderungen dermaßen imprägniert sei, dass diese Entwicklung wieder einmal erst fünfzig Jahre später im Rückblick festgestellt werden könne.
Die anderen Schüler hielten Abstand, als wären Ada und die Ohren ein Grüppchen Birken inmitten eines verdreckten Parkstücks. Die Mitgliedschaft in einer Randgruppe genoss Ada in vollen Zügen. Seit man sie in Gesellschaft der Band sah, hatte niemand mehr >Marionette< zu ihr gesagt.
Die Klassenarbeiten zeigten, dass Adas Leistungen in allen Fächern am oberen Rand des Spektrums lagen. Bei Höfi verbrachte sie nach wie vor viel Zeit vor der Tür und begriff jeden neuen Rauswurf sowie die Tatsache, dass er dazu übergegangen war, sie >Klotzkopf< zu nennen, als einen Beweis seiner Freundschaft, ja seines Respekts.
Wenn ein Lehrer wissen wollte, wo Olaf sei, fragte er Ada nach >ihrem Freund<. Sie ließ es widerspruchslos geschehen.
Außerhalb von Schulzeit und Proben verbrachten sie unaufgeregte Stunden am Rhein oder fuhren mit dem Bus in die Innenstadt, um am Hauptbahnhof Haschisch für Rocket zu kaufen, der beim nächsten BTMG-Delikt mit einer Jugendstrafe zu rechnen hatte. Bei schlechtem Wetter lagen sie in Olafs Zimmer auf dem Boden und durchforsteten seine umfangreiche Musiksammlung, hockten eng beieinander vor dem Notebook des Vaters, um raubkopierte Filme im DIVX-Format anzuschauen, oder lasen sich gegenseitig aus der Zeitung vor. Bei allem, was sie machten, hatte Ada das Gefühl, ebenso gut mit Zinnsoldaten oder Matchboxautos spielen zu können. Dass Olaf ein Jahr älter war als sie, musste auf einem Berechnungsfehler der Natur beruhen. Hätte sich eines Tages herausgestellt, dass er aufgrund eines Seitensprungs seiner Mutter ihr drei Jahre jüngerer Bruder war - sie hätte sich kaum gewundert. Seine Eltern behandelten Adas Anwesenheit mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der sie zuvor ihre Abwesenheit behandelt hatten. Es war unmöglich, sich dabei nicht wohl zu fühlen.
Manchmal kam Olaf zum Sportplatz und sah ihr beim Laufen zu. Er setzte sich im Schneidersitz auf die Wiese, stützte das Kinn in die Hände und umfasste mit weitwinkligem Blick das Gelände, auf dem seine Wahlschwester ihre Runden drehte. Wenn sie fertig war, hatte er dunkle Flecken auf dem Hosenboden. Die Tage wurden kürzer, der Boden feucht.
Mit der Fähre fuhren sie auf die andere Rheinseite, setzten sich in ein Ausflugslokal und freuten sich über nikotingelbe Spitzengardinen, geblümte Plastiktischdecken und die Speisekarte mit Goldschnitt und grausamen Rechtschreibfehlern in allen drei Sprachen. Immer bestellten sie gebratene Champignons und Pommes frites. Weil der Pächter des Lokals aus Bosnien stammte, servierte er nur die Hüte der Pilze, in Öl schwimmend und von gummiartiger Konsistenz. Wenn man sie mit der Unterseite auf den Teller presste, pfropften sie sich wie Saugnäpfe fest, und weil es nur Olaf gelang, alle Champignons auf diese Art an den Teller zu kleben, ohne dass einer hinunterfiel, zahlte Ada jedes gemeinsame Essen als verlorenen Wetteinsatz. Sie glaubte nicht, dass Olaf sie liebte. Sie glaubte, dass er genauso über sie dachte wie sie über ihn, nur gewissermaßen von der anderen Straßenseite aus.
Eines Tages bat Olaf, einen Blick auf Adas Zuhause werfen zu dürfen. Draußen war gerade eine westdeutsche Sonne mit unerwarteter Schärfe durch die Wolkendecke gebrochen, staubiger Lichtnebel hüllte das Flusspanorama ein, Lichtfähren schwammen auf Lichtpfützen, an dessen Rand Freizeitfischer in hohen Gummistiefeln im Wasser standen. Keine Hochglanzvilla, kein bepflanzter Vorgarten und keine Scheißfamiliensituation würden Olaf schrecken.
Ada schwieg. Seit Selma hatte sie niemanden mehr mit nach Hause gebracht. Sie drehte ihre Zigarette im Aschenbecher, und Olaf sah dabei zu und wartete darauf, dass die Kippe ausging, bevor Ada einmal daran gezogen hatte. Längst wollte er die Sache auf sich beruhen lassen, als Ada aufstand. Gehen wir.
Sie setzten mit der Fähre über und liefen flussabwärts bis kurz hinter die Villa Kahn. Sie durchquerten ein Wohnviertel aus Einfamilienhäusern, das mit winzigen Treppenaufgängen, Miniatursäulen, geschwungenen Gitterchen und kleinen Zäunen wie die geschrumpfte Kopie eines Amsterdamer Stadtteils wirkte. Eine stark befahrene Tangente, an deren südlichen Ausläufern Ernst-Bloch gelegen war, schoss heran und verschwand in der
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