Spieltrieb: Roman
- es war ihm egal. Sie kannten sich nicht. Sie führte ihr Leben, er führte seins. Wenn sie Hilfe benötigte, konnte sie es sagen, und er würde sehen, was sich machen ließ. To wszystko, das war alles. Er war kein Pädagoge, er war Dienstleister.
Das wollte er ihr sagen, sie hätte sich bestimmt gefreut, aber er fand keine Worte und konnte aus diesem Umstand ableiten, dass Ada schwierig war. Im Lehrerzimmer galt sie als Schweigerin, aber sie schwieg nicht, sondern zwang andere zu schweigen, was ein Unterschied war. Smutek hatte kein Problem damit. Als Lehrer besaß er die Fähigkeit, alle Sensoren für Zwischenmenschliches abzuschalten und die Signale zu ignorieren, denen der Mensch von Seiten seiner Artgenossen permanent ausgesetzt ist. Smutek beherrschte den Autismus auf Kommando.
Unbeeindruckt durch ihre Miene begann er, von seinen Plänen zum Aufbau einer Leichtathletikgruppe und von Teuters Widerstand zu erzählen. Ada spazierte neben dem Geplauder wie ein Flaneur am Bach, der dann und wann stehen bleibt und mit überraschender Heftigkeit einen Stein ins Silbergeplätscher kickt.
»Bei dem Krieg«, sagte sie beispielsweise, »den Teuter gegen sich selber führt, will ich keine Blauhelm-Mission durchführen müssen.«
In Smutek wuchs der Glaube, ihr eine Menge Dinge anvertrauen zu dürfen, über Leichtathletik, Teuter, sich selbst, Polen, Deutschland und was es bedeutete, wenn man hinter dem Eisernen Vorhang die Postmoderne verpasst hatte und manche Erscheinungen beim besten Willen nicht verstand. Gleich der erste Satz, den das Großhirn ihm zurechtlegte, stolperte über die eigenen Ausläufer, verhedderte sich in Einschüben und Nebensätzen, geriet zu gigantischer Länge, konnte sich an seinen Anfang nicht erinnern und das Ende nicht vorhersehen und verreckte im Brutkasten. Smutek zwang sich zurück in seichteres Fahrwasser und plauderte weiter über Tartan und Zielgeraden. Nach der fünften Runde gemeinsamen Gehens verließ er die Bahn. Ada zog ihren groben Wollpullover direkt über die nackte, inzwischen trockene Haut, was Smutek schaudern machte, streifte die Shorts ab und stieg in ihre Jeans, ohne sich darum zu kümmern, dass er neben ihr stand. Frau Smutek verschwand nach fünfzehn Jahren Ehe immer noch im Badezimmer und schloss die Tür, wenn sie sich umkleiden wollte.
Als Ada fertig war und sich aufrichtete, sah sie ihn zum ersten Mal an. Ihre Augen waren von einer Farbe, die sich am besten als >farblos< beschreiben ließ, etwa so, wie es >kein Wetter< gab oder wie ein Mensch >an nichts< denken konnte.
»Es würde mich beruhigen zu wissen«, sagte sie, »wenn Sie wüssten, dass ...«
Ihr Blick rutschte ab und blieb an seinem Kinn hängen, das durch eine senkrechte Falte in zwei fleischige, nicht ganz symmetrische Hälften geteilt wurde und aussah, als könnte man es mit leichtem Druck der Daumen auseinander brechen wie eine dicke siamesische Zwillingspflaume. Wenn Smutek gewusst hätte, was sie in diesem Moment dachte, hätte es ihn endgültig aus dem Konzept gebracht. Dieses Kinn, dachte sie nämlich, muss der Sitz seines Sprachzentrums sein. Während seines munteren Schwatzens war ihr aufgefallen, wie bedächtig er die Worte wählte; nicht wie ein vorsichtiger Rhetoriker, sondern wie ein Mann, der nach dem Baukastenprinzip aus einer fremden Sprache übersetzt und den deutschen Text vorträgt, ohne die Bedeutung der einzelnen Satzbestandteile zu kennen. Aber auch ohne dass sie diese Überlegung aussprach, genügte ihr intensiver Blick, um Smutek mit allen zehn Fingern sein Gesicht betasten zu lassen, als wollte er den nächsten Gesichtsausdruck vormodellieren.
»Es würde mich beruhigen«, begann Ada ein zweites Mal, »wenn Sie auf eine Enttäuschung vorbereitet wären. Sie besiegen Teuter. Sie bekommen einen neuen Sportplatz mit allen Schikanen. Dann melden sich zehn Schüler für die Leichtathletikgruppe, und nach den ersten Trainingsstunden kommen noch drei.«
Weil Smutek nichts sagte, musste sie weitersprechen.
»Soll ich Ihnen sagen, wo das Problem liegt?«
»Ja bitte«, sagte Smutek, »verrat es mir.«
»Wir sind alle Müßiggänger, die sich die Fingernägel schneiden, weil keine Arbeit sie abwetzt.«
»Darüber muss ich nachdenken.«
»Das sollten Sie.«
»Dürfte ich erfahren, warum du dir Gedanken machst um mein Seelenheil?«
»Wahrscheinlich bin ich dafür, dass der Mensch in begrenztem Rahmen bekommt, was er will.«
Sie hatte ihre Tasche aufgenommen und über die Schulter
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