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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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meinem Leben, dass ich jemanden um eine Unterredung bitte.«
    Mit diesen Worten begann Ada das Gespräch, nachdem sie Olaf auf dem Weg zur Bandprobe abgefangen hatte. Die Route, die er über den Parkplatz nahm, kannte sie auswendig, immer die gleiche Abfolge von rechts und links zwischen den Reihen parkender Autos. Jetzt standen sie im Schatten eines Kleintransporters und sahen aneinander vorbei.
    »Das glaube ich dir aufs Wort.«
    Er sagte es mit so verbissener Ironie, als hätte Ada mit den einleitenden Worten die finstersten Seiten ihres Charakters offenbart und damit im Voraus alle Fragen beantwortet, so dass sie beide sich ebenso gut wieder trennen und ihrer Wege gehen konnten.
    »Vielleicht gelingt es uns, ein paar Minuten normal miteinander zu reden.«
    Gegen ihre Ruhe kam er nicht an. Sie wirkte nicht einmal unterkühlt, sondern mehr wie das Ergebnis bedürfnisloser Geduld. Ada war nicht zum Zweck einer Abrechnung gekommen, sie wollte nichts kitten, keine Wiedergutmachung, weder Versöhnung noch Rache. Sie wollte etwas wissen. Das nahm Olaf den Wind aus den Segeln und ließ ihn von neuem die zähe Trauer spüren, von der er geglaubt hatte, sie sei im Lauf der Ferien unter der Hitze vertrocknet wie eine Schnecke ohne Haus.
    »Okay«, sagte er. »Was gibt's?« »Ich würde dich gerne fragen, was passiert ist, aber für diese Frage war es schon vor sechs Wochen zu spät, und jetzt könnte ich mich nur noch lächerlich machen. Stimmt's?«
    »Das stimmt.«
    »Gut. Stattdessen möchte ich wissen, warum du meinen Anblick nicht mehr erträgst, während du Rocket weiterhin in jeder Pause treffen und mit den Ohren proben kannst, als wäre nichts geschehen.«
    Olaf schaute zu Boden. Diese Frage hatte er sich selbst einige Male gestellt, und er wusste, dass Ada ihm das ansah.
    »Es war Rockets Idee«, sagte sie.
    »Ich weiß.«
    Die richtige Antwort lautete: Es ist so, wie es ist. Das menschliche Gefühl ist kein Geburtsort der Gerechtigkeit. Ada stand auf der anderen Seite einer kilometertiefen Schlucht, Olaf konnte nicht mehr zu ihr hinüber, ein Versuch hatte nicht den geringsten Zweck. Weil er nicht wusste, was er ihr sagen sollte, wählte er die Wahrheit.
    »Ich hatte geglaubt, wir seien Freunde.«
    »Das waren wir. Und?«
    Aber die Wahrheit war ein Fisch, der sofort starb, wenn man ihn aus der Flüssigkeit herausnahm, in der er schwamm. Was du getan hast. Und als wir uns. Weißt du nicht mehr, was damals passiert war. Wie du geweint hast. Wie Joes Rächer dich angefasst haben.
    »Was du gemacht hast«, sagte er laut, »gehört zu den Dingen, vor denen ich dich beschützen wollte. Das hatte ich mir vorgenommen.«
    Jetzt verstanden sie beide. Ada hatte sich unwillkürlich abgewandt, als wollte sie weglaufen, blieb aber stehen und lehnte sich gegen die Seitentür des Transporters, der warm war von der Sonne wie ein lebendiges Tier. Plötzlich schauten sie sich an, ganz unmittelbar, als wäre nichts Trennendes zwischen ihnen, keine Mauer, keine Luft, nicht einmal Haut, Fleisch, Blut und Knochen. Olaf war älter geworden. Wahrscheinlich hatte er innerhalb weniger Wochen ein paar Jahre zurückgelegt, und was er empfand, waren nicht Trauer oder Verzweiflung, sondern Wachstumsschmerzen und das nervtötende Sausen beschleunigter Zeit.
    »Was bist du denn für ein Mensch?« Er schluchzte fast.
    »Wonach fragst du mich da?«
    »Ich weiß nicht. Was denkst du. Was fühlst du. Hast du Gedanken und Gefühle?«
    »Fragst du nach meinem Bewusstsein?«
    »Von mir aus auch das.«
    Zitterte er? Aus Gründen der Logik müssen wir annehmen: Er zitterte bestimmt. Die ersten Erfahrungen mit den hermetisch geschlossenen Grenzen zwischen Menschen sind hart. Langwierige Verhandlungen von Freizügigkeitsabkommen werden meist nur im Anschluss an große Krisen aufgenommen, und bis dahin steht der Mensch da, weiß nicht, ob er als Herdentier oder Einzelgänger zur Welt gebracht wurde und muss seine diesbezügliche Verwirrung auch noch vom Schandbegriff >Pubertät< banalisieren lassen. Olaf zitterte, weil ihm gar nichts anderes übrig blieb.
    Der richtige Augenblick, falls ein solcher zwischen ihnen noch vorrätig war, ging vorbei, während sie schweigend nebeneinander herumlungerten. Olaf schob mit einer Geste, die er vor dem Spiegel einstudiert hatte, die Lippen vor und steckte eine Haarsträhne im Pferdeschwanz fest. Ada zog den Blick aus seinem Gesicht wie ein Messer aus einem Stück Butter, legte den Kopf in den Nacken und hielt nach

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