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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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dem Essen erbrach Ada den selbst gefangenen Fisch über die Reling. Der Brigadegeneral trug sie zu ihrer Koje, sagte nichts und deckte sie zu. Sie hatten einander stets respektvoll behandelt, schon damals, als er in die Familie eintrat und Ada noch ein kleines Mädchen war. Wahrscheinlich hatte er ihr höflich den Kopf gestreichelt und sie zuvorkommend zum Kinderarzt gefahren. Es dauerte vier Tage, bis Ada sich vom Hitzeschock erholt hatte.
    Jetzt war es fast ebenso heiß wie vor drei Wochen an der Adria, und Ada wollte etwas Ähnliches nicht noch einmal erleben. Aber die Sportschuhe steckten sichtbar in den Seitentaschen des Armeerucksacks, den sie sich zum Schuljahresbeginn gekauft hatte, und in ihrem Kopf begann Olafs Antlitz mit dem gekränkten Hundeblick sich um sich selbst zu drehen wie Wasser über dem offenen Abfluss, es brauchte nur noch einen kleinen Todesstoß. Ada überquerte die Straße bei Rot, drang im Laufschritt in den Park ein und war schon außer Atem, als sie Smuteks neue Tartanbahn erreichte. Der frische Belag warf das Sonnenlicht zurück, die weißen Streifen der Spurbegrenzungen schmerzten in den Augen. Falls das menschliche Bewusstsein ein leeres Zimmer war, gingen in diesem die Jalousien herunter und das Licht aus, als Ada zu rennen begann.
    Die tauben Wochen dauern an. Ada hat Probleme mit der Großen Liebe. Das Erbe der Postmoderne ist ein Haufen übereinander rutschenden Zitatenschutts
    S echs Wochen gestand Ada sich zu, bevor sie eine Entscheidung treffen wollte, und am Fristende hatte sich nichts, absolut nichts verändert. Eine Entscheidung setzte zwei Optionen voraus, zwischen denen man wählen konnte, und Ada war nicht mal eine Möglichkeit in den Sinn gekommen. Sie fühlte sich krank. Morgens nach dem Aufstehen wurde ihr schlecht, und weil sie schwerlich mit Mund und Wangen ein Kind von Olaf empfangen haben konnte, dachte sie darüber nach, ob im weiteren Verlauf der Geburtstagsfeier etwas passiert sein könne, an das sie sich nicht erinnerte. Mehr als unwahrscheinlich. Die andere Erklärung war ihr bei weitem unheimlicher als eine Schwangerschaft. Kinder konnte man abtreiben, Besessenheiten nicht.
    Sie befürchtete, dass die Ursache für ihren Zustand in den täglichen Begegnungen mit Alev bestehe, dass seine Nähe sie krank mache wie die Nähe des verkleideten Teufels einen klugen Hund, der sich winselnd hinter der Tür verkriecht, weil seine Instinkte besser funktionieren als die seines Herrn. Beständig stürzten ihre Gedanken sich auf Alev, als hätten sie nur darauf gewartet, endlich einen Gegenstand zu finden, den sie umkreisen durften wie ein Fliegenschwarm frischen Kot, begierig, sich niederzulassen, zu naschen, zu streiten, wieder aufzusteigen. Wo kam er her, wo ging er hin, wie war er drauf. Der Gedanke an ihn war ein Ohrwurm, der sich nicht vertreiben ließ. Mit einem Mal fehlte es ihr an Themen und Fragen, über die sie grübeln konnte; plötzlich vermisste sie all die Erinnerungen, die sie bekämpft hatte. Nichts war in Reichweite, das Ablenkung versprach. Das Heer toter Autoren, deren Bücher sie zu lesen pflegte, unterlag kampflos einem einzigen Feind. Wenn sie mit einem Werk von Balzac auf dem Rand der Badewanne saß, entstand kein Bild vor ihrem geistigen Auge, kein festlicher Ball, kein Kerzenlicht auf runden Frauenschultern, kein toter Vogel, der zum Servieren wieder im eigenen Federkleid steckte. Das alles war lächerlich, das alles besaß nicht die geringste Bedeutung. Gleich nach dem ersten Schultag war Ada vor die Bücherregale getreten und hatte auf Anhieb gefunden, was sie suchte: den Mann ohne Eigenschaften. Ihn las sie Wort für Wort, schaffte wenige Seiten in der Stunde, und es war Alevs Stimme, die aus dem Buch zu ihr sprach.
    Selbst zum Laufen fühlte sie sich zu schwach. Von Smuteks neuer Trainingsgruppe hatte sie gehört, aber sie fand auf einem fernen Planeten statt. Seit neuestem wohnte hinter ihrer Stirn ein Schmerz, der bei jeder Bewegung aufbrauste und erst wieder abebbte, wenn sie still saß. Er schien von einer vergifteten Stelle herzurühren, um die der Körper wie die Auster ums Sandkorn eine harte Schale zu bilden versuchte. Dort saß das Zentrum allen Übels, ließ sich von Schlägen mit dem Handballen nicht beeindrucken und färbte die Welt in einem neuen Ton. Mit diesem veränderten Blick ertrug Ada den Anblick des eigenen Körpers nicht mehr. Plötzlich war die Haut im Gesicht und an den Schultern von kleinen und mittelgroßen Pickeln

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