Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
besetzt, und bei genauer Betrachtung gab es kaum eine Pore an Stirn und Wangen, die nicht krank aussah, Fehlfunktionen ausführend, anstatt unauffällig und klein an ihrem Platz zu sitzen und die Gesamtabläufe nicht zu stören. Die Haare fielen aus und kitzelten an Rücken und Seiten unter der Kleidung, weiter unten produzierten die Nagelränder zu viel Haut, die es mit Zähnen und Fingernägeln abzureißen galt, und die Schleimhäute der Nase bildeten Verkrustungen, die alle paar Stunden entfernt werden mussten. Wenn Ada auf die Toilette ging, wischte sie sich mit meterlangen Bahnen von Klopapier den Hintern ab, weil der Vorgang nicht ordentlich abschloss und immer etwas hängen blieb. Überhaupt war sie im Ganzen für ihre Größe zu schwer. Alles an ihr war robust und kräftig, gemacht für ein Wesen, das täglich gebückt durchs Unterholz rennt und sich das Futter mit bloßen Händen fängt. Arroganz hatte sie immer daran gehindert, dem eigenen Körper mehr als die nötigste Beachtung zu schenken. Nun kam die pausenlose Selbstbeobachtung im Schlepptau der Gedanken an Alev.
    Es ärgerte sie, dass jeder neutrale Beobachter, sie selbst eingeschlossen, die klassischen Symptome der ersten Großen Liebe an ihr diagnostizieren musste. Sie spürte förmlich klopfende Hände auf den Schultern: Bleib ruhig, Mädchen, das geht vorbei. Man kann ohnehin nichts dagegen machen. Genieß es. Friss oder stirb. Ada wusste sogar, dass jede erste Große Liebe sich standhaft weigerte, als solche zu gelten, und dass sie mit Erklärungen und Entschuldigungen bewehrt war wie ein Igel mit Stacheln.
    X war neu auf der Schule und bekam das Pult dicht bei der Tür. Y saß am Fenster, und als ihre Augen sich trafen, dachte Y: Gut, dass ich heute meine neuen, knallengen Jeans und die orangefarbene Bluse angezogen habe. Denn in diesen Sachen sah Y wirklich süß aus.
    So nicht, so keinesfalls. Jede Große Liebe nahm sich selber ernst, war anders, als es die Vorurteile versprachen, war schädlich, gesundheitsbedrohend oder Schlimmeres. Und Ada wusste, die höchstmögliche Stufe paradoxer Erkenntnis erklimmend, dass die Große Liebe genau in diesem Anderssein alle Kriterien des Schemas erfüllte. Aber auch wenn im Zeitalter der Zitate die Wirklichkeit längst angefangen hatte, ihre Abbilder zu kopieren; auch wenn glückliche Schicksale und schreckliche Tragödien unzählige Male vorgelebt worden waren in Büchern und Filmen und nur noch als Reproduktionen, als Plagiate oder Parodien existierten; wenn inzwischen alles als etwas identifizierbar war und man beim Herumirren im Spiegelkabinett nur noch zufällig über Wirkliches stolperte, sich die Zehen blutig stieß und ausrief: Nanu, das war kein Zitat, das lag im Weg!; wenn es beim Auffüllen der gängigen Muster nur noch so viel Freiraum gab wie beim Malen nach Zahlen - was Ada erlebte, war dennoch anders. Es war nicht die Große Liebe.
    Vielmehr war Ada hinter etwas her, das Alev gehörte. Vielleicht war ein Irrtum unterlaufen in den jahrtausendeweiten Vorausberechnungen der Menschheit, vertauschte DNA, ein Pfusch am Kunden, und nun besaß Alev jene geheimnisvolle Aura, jene nicht unmenschliche, nicht übermenschliche, aber gewissermaßen antimenschliche Fehlerlosigkeit in allen seinen Bewegungen, die Ada gleich in erster Sekunde für sich selbst reklamiert hatte. Rings um ihn lag ein Territorium, das ihr den einzig möglichen Platz zum Leben versprach. Wofür sie einen solchen brauchte, begriff sie selber nicht. Wer keinen Baum pflanzte, brauchte keine Erde, und wer kein Haus baute, keinen Stein. Fest stand allein, dass sie etwas wollte, das Alev sein Eigen nannte. Das war nicht Liebe, sondern Annexionsbestreben auf den ersten Blick.
    Näher kam sie an das Problem nicht heran. Es reichte so schon, um keine ruhige Minute mehr zu haben. Ein paar von Smuteks Theorien zum Großen Stillstand hätten ihr Erleichterung gebracht: die Sackgasse im Zeitstrahl, ein chaostheoretischer Stau im Kreisverkehr der Schicksale, postkoitale Traurigkeit nach vollzogener Millenniumwende -denn nichts ist schöner als überindividuelle Verantwortlichkeit. Zu diesem Zweck hat Gott das Wetter erfunden.
    Ada macht sich an Alev ran
    D as Wetter aber war nach Jahrhundertflut und Jahrtausendsommer in philiströse Bahnen zurückgekehrt. Der elfte September jährte sich zum zweiten Mal, der Irakkrieg wurde nach seinem offiziellen Ende inoffiziell fortgesetzt, und Schröder verlor an Beliebtheitsprozenten, weil er der Hitze

Weitere Kostenlose Bücher