Spieltrieb: Roman
Kraftmenge, die ihr abhanden gekommen war, und seine Berührung glich einer Rückzahlung von zwei Cent bei einem Schuldenberg von zehn Millionen. Am liebsten hätte sie seine Hände abgeschnitten und behalten. Sobald er losgelassen hatte, um auf Grüttels Tür zu deuten, kehrte ihr Körper in den Zustand der Befehlsverweigerung zurück, gehorchte träge oder gar nicht, und sie hatte Schwierigkeiten, die Fäuste zu schließen, als wäre sie soeben nach zwölfstündigem Schlaf erwacht. Immerhin wusste Ada jetzt, dass sie nicht an den Nachwirkungen des kroatischen Hitzeschlags litt und weder krank noch schwanger war.
Der Raum, in dem sie sich wiederfanden, war L-förmig geschnitten und wurde offensichtlich von zwei Bewohnern geteilt.
In jeder Zimmerhälfte standen ein Bett, ein Schrank sowie Tisch und Stuhl. Dem Mobiliar war anzumerken, dass es über die Jahre hinweg aus Restbeständen zusammengeklaubt war. Am Nachtschränkchen ein aus Holz geschnitzter Löwenfuß. Dort ein kleiner, unpraktischer Waschtisch, hier ein Kerzenhalter an der Wand, der einst gemeinsam mit einem verloren gegangenen Zwilling das Notenbrett eines Klaviers flankiert hatte. Eine von drei Gardinenstangen aus Kupfer, ansonsten viel schäbiges Furnier, das sich an den Ecken mit den Fingernägeln abheben ließ. Das innenarchitektonische Quodlibet verbreitete eine trostlose Atmosphäre, in der sich die Internatsbewohner präsentierten wie übergroße, bizarre Käfer in einem Terrarium.
Drei männliche Exemplare saßen am Boden, einen Aschenbecher in ihrer Mitte wie ein Gesellschaftsspiel. Sie gehörten nicht zu den Tausendschönen, sondern pflegten wertbeständige Neunziger-Jahre-Coolness in weiten, abgetragenen Jeans und engen, teuren Pullovern. Träge blinzelten sie zu Ada hinauf.
»Freundin von dir?«
Jeder an der Schule kannte Grüttel und Bastian, und hiervon machte nicht einmal Ada eine Ausnahme. Grüttel war über eins achtzig groß, wie alle seine Freunde, besaß bleiches, glattes Haar, das er sich beim Reden alle paar Sekunden aus der Stirn zu streichen pflegte, dazu eine Sammlung von Sonnenbrillen sowie den Zahlencode zum Safe seines Vaters, der in Düsseldorf eine gut gehende Galerie betrieb. Mit einer bestimmten Summe, die er dem Tresor monatlich entnahm, versorgte er seinen Freundeskreis mit Spaß und der dazu notwendigen Unterhal-tungspharmazeutik. Seinen Eltern war es gleichgültig, oder vielleicht betrachteten sie den regelmäßigen Schwund eingelagerten Bargelds als ein natürliches Phänomen, ähnlich dem Gewichtsverlust von zum Trocknen ausgelegtem Obst. Bastian, der neben ihm saß, erhielt eine vergleichbare Summe als monatliche Gegenleistung dafür, dass er seine Familie ausschließlich zu festlichen Anlässen besuchte. Er hatte ungewöhnlich fleischige, aufgestülpte Lippen und gab in den Umfragen des Berufsinformationszentrums >Pornostar< als Ausbildungsziel an. Der dritte Junge wurde Ada vorgestellt: Toni, dick und aknegeplagt. Er trug das lange Haar offen und eine Bürste in der Hosentasche, mit der er sich in jeder Pause kämmte. Zusammen ergaben sie eine Clique, in deren Gegenwart niemand sprach, ohne gefragt zu werden. Sie hatten in den Disziplinen Coolness, Geld und Rücksichtslosigkeit die unangefochtene Vormachtstellung inne.
»Das klügste Mädchen der Schule«, sagte Alev, indem er auf Ada zeigte, und straffte die Schultern in dem Bewusstsein, als einziger Mensch auf Ernst-Bloch einen solchen Satz äußern zu können, ohne sich lächerlich zu machen.
»Angenehm«, sagte Bastian und winkte mit seiner filterlosen Zigarette. »Was macht dich so klug?«
»Die Fähigkeit, an den richtigen Stellen zu schweigen«, sagte Ada, »und ansonsten Dinge zu sagen, von denen jeder glaubt, er müsste sie verstehen, obwohl sie absolut keinen Sinn ergeben.«
Alle drei nickten, obwohl sie nichts begriffen, und Alev lachte aus vollem Hals.
»Seht ihr!«, rief er fröhlich. »So macht sie es mit allen. Sie ist das Mädchen mit der Amerikadiskussion.«
Jetzt wusste Ada, warum sie hier war.
Die Amerikadebatte
E s lag an Höfis USA-Diskussion. Unter Androhung schärfster Konsequenzen hatte Teuter nach dem Ausbruch des neuesten Golfkriegs das Tragen von Plaketten und Anstecknadeln verboten und die Behandlung der Irakfrage im Unterricht als unerwünscht erklärt. Höfi hatte abgewartet, bis nach den Sommerferien das Wort >Kriegslüge< gesellschaftsfähig geworden war, gab dem Schuljahr noch einen Vorsprung von mehreren Wochen und
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