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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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nicht mit Bundeswehrtruppen auf den Hals zu rücken verstand. Anfang Oktober lagen die Temperaturen bei durchschnittlichen fünfzehn Grad. Es war für die Jahreszeit weder zu warm noch zu kalt. Das Wetter lieferte keine Alibis.
    Da es keine Entscheidungsmöglichkeiten gab, tat Ada, was sich ohne Entscheidung tun ließ: Sie hielt sich in Alevs Nähe. Im Gegensatz zu früheren Gewohnheiten erschien sie pünktlich zum Unterricht, lehnte im Flur neben der Klassenzimmertür, ein Bein angewinkelt, die Stiefelsohle gegen die Wand gestellt, und las in der Zeitung, bis Alev den Gang hinunterkam. Meist folgte ihm eine Eskorte von Mädchen und Jungen, die sich einen halben Schritt hinter ihm hielten und seinen Worten lauschten. Es beruhigte Ada zu sehen, dass es selten an zwei aufeinander folgenden Tagen dieselben Verehrer waren. Wenn Alev an ihr vorbeiging, grüßte er sie mit ausgesuchter Höflichkeit, und manchmal blieb er stehen und beendete einen Vortrag, der seinem Gefolge galt, mitten in ihr Gesicht.
    »Ada.« Sie hatte ihm ihren Namen niemals genannt. »Das Schöne am Leben ist, dass es nichts mehr zu verlieren gibt, wenn man einmal akzeptiert hat, dass es früher oder später zu Ende geht. Dunkelheit, Geburt, Fressen, Ficken, Kämpfen, Fade Out. Solange wir daran nichts Schlimmes finden, gibt es absolut nichts zu fürchten. Die größte Gabe des Menschen ist seine Fähigkeit zum Freitod. Frei durch Tod. Wenn uns etwas nicht passt, können wir gehen. Wo soll das Problem sein?«
    Ada hatte das deutliche Gefühl, dass er nur über sie beide sprach, und verschränkte die Finger hinter dem Rücken an der Wand, um nicht versehentlich eine Hand nach ihm auszustrecken.
    »Im Sinn vielleicht?«, fragte sie ironisch.
    Bislang hatte sie jede Bemerkung, die sie in seine Richtung schickte, nur mit Hilfe von Ironie herausgebracht. Alev reagierte nicht darauf. Meist fand er es besser, die Waffen seines Gegenübers zu ignorieren. Für ihn war jeder Gesprächspartner ein Gegner und jede Unterhaltung eine Schlacht.
    »Die Suche nach Sinn ist reine Selbstbeschäftigung«, sagte er. Sein Tonfall war freundlich-belehrend, als spräche er mit einem kleinen Kind. Trotzdem gelang es ihm, mit Blicken und Gesten klarzustellen, dass er die versteinerte Ada an der Wand für ein mindestens ebenbürtiges Wesen und die Unterhaltung im Einverständnis mit ihr für einen Scherz hielt. »Die Sinnsuche ist einem Kreuzworträtsel vergleichbar, in das der erste Begriff mit Absicht falsch eingetragen wurde. Eine Patience mit unvollständigem Kartenspiel. Man kann sich damit die Zeit vertreiben. Man kann es auch sein lassen.«
    Ada stieg auf das Spiel ein und übernahm die Rolle eines besorgten Fragenstellers, während Alevs Gefolge im Halbkreis zum Auditorium wurde.
    »Hast du kein Ziel? Gibt es nichts, was du wünschst? Einen Beruf? Eine Frau? Wie wär's mit Geld?«
    »Wir sind gar nicht fähig, etwas zu wünschen, das wir nicht längst besitzen oder besitzen könnten. Das liegt im Wesen des Wünschens. Ich persönlich lehne es ab, auf diese Weise die Zeit totzuschlagen. Zeit ist das Einzige, was dem Menschen wirklich fehlt.« Er beugte sich vor und schaute sie aus geringer Distanz mit seinen geschlitzten Augen an. Halb erwartete sie, er würde ihr in der nächsten Sekunde ein Rätsel stellen: Was geht erst auf vier Beinen, dann auf zweien und schließlich auf dreien. »Das Einzige, was der Mensch besitzt und was ihm ständig fehlt, ist Zeit. Darüber hinaus gibt es nur Simulationen von Besitz, sei es an Gefühlen, Schönheit oder Geld. Alle diese Dinge sind der Zeit unterworfen. Von ihr gehört Uns ein kleines Stück. Ich werde es nicht verschwenden.«
    »Was willst du damit anfangen?«
    »Nichts. Nichtstun und Nichtswollen ist die einzig würdige Art, dem Zeitgott zu huldigen. Wie soll man die Reinheit dieses Geschenks erkennen, wenn man ständig Dinge hineinschüttet wie Unrat in einen kristallklaren Bach?«
    Anders als bei anderen Menschen, die ähnliche Schwachheiten auf weniger eloquente Weise von sich gaben, verspürte Ada kein Bedürfnis, ihn zu entlarven und das letzte Wort zu behalten. Seine Angeberei und seine kindlichen Inszenierungen brachten sie am Ende zum Lachen, und ihr Lachen war wie die ringförmigen Wellen auf der Oberfläche eines Sees, nachdem ein Stein hineingefallen ist und in die Tiefe sinkt. Alev war derartig überzeugt von seinen Worten, dass diese Überzeugung sich zu Wahrheit verdichtete, so wie unendlich oft wiederholte

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