Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
Spiegelungen von Realität schließlich Wirklichkeit ergaben. Wie immer lag das Eigentliche in der Form, Inhalte waren austauschbar. Wenn Ada länger zuhörte, würde sie ihm eines Tages glauben, ganz gleich, was er erzählte. Es machte ihr nichts aus, das zu erkennen. Der eigene Verstand war ihr weniger heilig als ein gutes Buch und dabei größer als jeder Mülleimer.
    Die Schulklingel entband sie von der Antwortpflicht, und sie genoss es, Alev eine Sekunde zu lang gegenüberzustehen, während das Gefolge die gespitzten Ohren einfaltete, offene Münder schloss und sich ins Klassenzimmer hinein zerstreute, um die Plätze einzunehmen. Adas Lachen wurde zu einem maliziösen Lächeln der Sorte >Dies kann dir mehr sagen als tausend Worte, wenn du nur klug genug bist, es zu deutenc, und sie trug ihren Kopf in den Klassenraum, froh, dass er festgewachsen war und sich nicht wie mit Gas gefüllt unter die Decke heften konnte, stecken geblieben auf dem Weg in den Himmel.
    Hielt Alev nicht vor ihr an, ließ Ada ihn und seine Jünger vorbei und zählte langsam bis zwanzig, bevor sie folgte und sich in ihre Ecke am Fenster zurückzog. In den Pausen trödelte sie in den Gängen herum, bis Alev sich in Bewegung gesetzt hatte, und folgte im Abstand von einigen Metern. Sie nahm an keinem Gespräch teil, begegnete keinem Blick, wandte der Gruppe, in der Alev sich befand, den Rücken zu und blieb in Hörweite. Sie benahm sich wie ein Spitzel oder wie ein heimlicher Leibwächter, der immer in Bereitschaft steht und eines Tages bezahlt werden wird für das Warten auf die Stunde Null.
    Über dem Luftraum Ernst-Blochs befindet sich eine andere Welt
    A ls Alev sie darauf ansprach, zögerte sie nicht, eine möglichst zutreffende Antwort zu geben. Ich weiß nicht genau, warum ich dir nachlaufe, wahrscheinlich weil mir nicht einfällt, was ich sonst machen soll.
    Die Antwort gefiel ihm. Dann sag doch was! Er lachte. Bei dieser Beschäftigung kann ich dir ausgesprochen nützlich sein.
    In der nächsten großen Pause nahm er sie mit ins Internat, das wie ein abgeschotteter Staat seine Visumpolitik an die Einladung eines Einwohners knüpfte. Wer keine Freunde besaß, gelangte niemals hinauf.
    Während sie Treppe um Treppe aufwärts stiegen, kam es Ada vor, als verließen sie gemeinsam das Schulgelände. Auf Höhe der Zimmerdecken des fünften Stocks endete der Luftraum von Ernst-Bloch mit seinen üblichen Durchflugrechten und ging in etwas anderes über, einen Himmel, eine Hölle, eine fremde Welt auf der Wolkendecke. Schon im Treppenhaus empfing man die olfaktorischen Botschaften der Großraumküche, vermischt mit einem Hauch von Kaffee, Fußpilzmittel und Anti-SchimmelSpray, und hinter der Milchglastür am Eingang der sechsten Etage roch es nach Gemeinschaftsdusche, Großraumklo und dem Zusammenleben von Menschen auf engstem Raum. Der Flur war mit dem gleichen bordeauxroten Linoleum ausgelegt wie die Gänge in den unteren Stockwerken, wurde jedoch der vollen Länge nach von einem abgetretenen Läufer aus blauer Baumwolle bedeckt. An den Zimmertüren hingen Musik- und Filmplakate, am Ende des Flurs standen zwei staubige Gummipflanzen und ein Servierwagen aus Aluminium, gebraucht erworben vom Stadtkrankenhaus. Das waren die Attribute, die den Internatsflur von allen anderen Etagen des Schulgebäudes unterschieden.
    Alev klopfte an die erste Tür neben der Küche. An ungeraden Tagen war Erich wachhabender Offizier, während die zweite Erzieherin namens Amelie Ausgang hatte. Zwei Externe mit Einladung von Grüttel und Bastian. Nur für die Pause? Geht in Ordnung. Adas Füße wollten nicht recht vorwärts, als gingen sie auf einem Laufband gegen die Marschrichtung. Sie hatte das Gefühl, durch einen fremden Vorgarten zu stapfen, das enge, halb militärisch, halb inzestuös organisierte Menschennest stieß Fremde ab wie Öl einen Wassertropfen. Nur Alev hatte sich sofort zu Hause gefühlt, ganz Herr der Szene, ganz Missionar auf neuem Einsatzgebiet.
    Energisch legte er Ada die Hände ins Kreuz und schob sie voran. Fest und temperaturlos lagen seine Finger zwischen ihren Schulterblättern und passten perfekt dorthin, als wären sie angewachsen wie zwei Engelsflügel. Ihr Nervensystem meldete Schmerz, extremes Wohlbefinden, Hitze und Kälte zur gleichen Zeit, und da wusste sie, dass sie Recht gehabt hatte: Alev allein trug schuld an ihrem Unwohlsein, an der Schwäche und den schrecklichen Denkschleifen der vergangenen Wochen. Er besaß jene

Weitere Kostenlose Bücher