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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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eröffnete eine Doppelstunde im Ge-schichtsleistungskurs mit der These, dass der Krieg im Irak genauso viel mit dem Anschlag auf das World Trade Center zu tun habe wie der Erste Weltkrieg mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers.
    Es habe in der Geschichte noch keine militärische Auseinandersetzung gegeben, die kein Eroberungskrieg sei. Die hohe Politik, so Höfi, sei in letzter Konsequenz immer pragmatisch, während die Ideologie den außerstaatlichen Akteuren vorbehalten bleibe. Diese nenne man >Menschenrechtsschützer<, >Umweltaktivisten< oder >Zivilgesellschaft<, solange sie unblutig vorgingen, und terroristische Netzwerke<, wenn sie zu den falschen Mitteln griffen.
    In der Klasse wurde geraunt. Joe schüttelte die Lockenmähne und erhob sich halb von ihrem Stuhl.
    »Wollen Sie Greenpeace mit der Al Qaida vergleichen?«
    Höfi antwortete mit einem vorsichtigen »Ja«. Es gehe ihm um stahlklares Denken, nüchternen Vergleich und eine Betrachtungsweise, die den Medientrampelpfad verlasse. Er spreche von Strukturen. Von kleinen Gruppen, die in Gegnerschaft zu staatlichen Einrichtungen stünden, von Netzwerken, Finanzquellen, Lobbyarbeit und dem Tonfall der Selbstpräsentation.
    Das folgende Chaos war ganz nach Höfis Geschmack. Er saß eingerollt wie ein Igel auf seinem Stuhl, schnellte den rechten Arm vor, um einzelne Schüler aufzurufen, und hielt mit der anderen Hand die Klasse im Zaum. Die Wangen über dem gestutzten Backenbart leuchteten rosig, es fehlten nur noch ein Zauberstab und ein umgedrehter Stuhl, um ihn zum Magier und Dompteur in einer Person zu küren. Jeder bekam nur wenige Sekunden für einen Beitrag, dann war der nächste dran. Jungen und Mädchen abwechselnd.
    Alev beteiligte sich nicht an der Diskussion. Er wartete, lächelnd, zurückgelehnt, auf den rechten Moment für die Machtergreifung. Ada sagte nichts, weil er nichts sagte. So wie sie den räumlichen Abstand zwischen sich und ihm möglichst klein zu halten suchte, blieb neuerdings auch ihr Verhalten in der Nähe des seinen. Erst als Höfi ihr einen Blick zuwarf unter gerunzelten Brauen, hob sie den Arm. Sogleich rief er sie auf; das Zusammenspiel klappte perfekt wie auf dem Handballplatz.
    »Der Westen«, sagte sie, »hat in der Tat ein strukturelles Problem. Man könnte auch sagen: ein dramaturgisches.« Ihre Stimme war eine halbe Oktave in den Keller gerutscht und vibrierte unten im Brustkorb, als wollte sie die Werbeansage für eine Erotik-Hotline auf Band sprechen. Dieser Klang besaß eine Autorität, die ihr selber fremd war. »Guckt ihr keine Hollywoodfilme? Wer sind denn die Gefährten im Lord of the Rings? Sie marschieren als Einzelkämpfer gegen ein wohlorganisiertes, hochgerüstetes Staatswesen. Man könnte auch sagen: Sie sind Terroristen.« Als die Klasse aufheulte, fuhr Höfi dazwischen und ebnete ihr akustisch den Weg.
    »Dann sage ich eben: Terroristen des Guten, wenn euch das besser gefällt. Reine Definitionsfrage. Worauf es ankommt, ist die Form: Ein paar Insurgenten, die sich todesmutig ins Zentrum der Macht stürzen, sind nach den Gesetzen Hollywoods strukturell im Recht.« Durch die plötzliche Stille marschierten Adas Worte wie die Armeen eines unbesiegbaren Herrschers. »Ich sage: todesmutig, zum Beispiel mit einem Flugzeug, ins Zentrum der Macht. Das ist David gegen Goliath, Luke Skywal-ker gegen den Todesstern. Panem et circenses!«
    Dem Schweigen war anzumerken, wie es die eigenen Gründe austauschte: Erst schwieg man aus Überraschung, dann aus Verwirrung, schließlich wandelte sich halbes Verstehen zu aufkeimendem Hass. Aus purer Überheblichkeit gab Ada mit wirbelnder Geste das Wort an die Klasse zurück und wartete ein paar Sekunden darauf, bis es von selbst in ihre Hand zurückkehrte. Höfi, den Kopf in halb ernster, halb ironischer Pose lauschend in die linke Hand gestützt, winkte da capo.
    »Die Nervosität der Vereinigten Staaten und das laute, weltweite Geschrei rühren daher, dass die angreifende Supermacht Angst hat und sich heimlich im Unrecht glaubt. Hollywood und Bibel sind die Träger der amerikanischen Kultur, und beide Quellen lehren, dass David siegt und Mordor untergehen muss. Wer sich nicht im Recht fühlt, ist gefährlich, wenn er trotzdem handelt. Sehr gefährlich.«
    Ada war fertig und die Luft draußen. Die Schüler saßen mit verschränkten Armen, manche begannen zu tuscheln, andere kramten sinnlos in ihren Unterlagen oder gaben vor, irgendetwas Interessantes vor dem Fenster

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