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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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verhallten. Sie genoss die leichte Gänsehaut auf dem Unterarm, verursacht von der Berührung der fünf lang gewachsenen Fingernägel, tote Endpunkte eines äußerst lebendigen Körpers. Sie genoss, dass Alev sie nicht losließ, während sie sich dem Klassenzimmer näherten. Olaf war schon auf seinem Platz und schaute zu, wie Alev ihr beim Betreten des Raums den Vortritt gewährte.
    Als sie saß, atmete Ada tief durch und streckte die Beine. Sie fühlte sich kräftig, am Nachmittag würde sie laufen. Es war Anfang Oktober, der Sommer hatte seine glühende Umklammerung gelöst, war abgefallen von der Stadt wie eine vollgesogene Zecke und langsam über den Horizont gen Süden davongekro-chen.
    Smutek beendet die tauben Wochen
    oder nimmt ihr Ende wenigstens seismographisch zur Kenntnis. Vielleicht hat der Mann ohne Eigenschaften damit zu tun
    M it schwungvollen Schritten betrat Smutek die Klasse, den Mann ohne Eigenschaften wie ein kleines Surfbrett unter den Arm geklemmt. Er fühlte sich großartig. Zu Beginn der letzten großen Pause hatte er mit einem Mal den Kopf gehoben. Er meinte, dass etwas sich verändert habe. Ein kaum wahrnehmbares Störgeräusch hatte ausgesetzt, oder vielleicht war das Licht heller geworden. Ein Rundblick durchs Lehrerzimmer ergab, dass alles so aussah wie in der Sekunde zuvor. Lindenhauer saß zwei Plätze weiter, weil er sehen wollte, was Smutek machte, sich im fast leeren Raum aber nicht direkt neben ihn setzen konnte. In einer Ecke hockte Klinger und versuchte auszusehen, als wäre er nicht da. Höfi hingegen war wirklich nicht da; seit der Konferenz verbrachte er die Pausen in einem nahe gelegenen Cafe in der Gesellschaft von braun gekleideten Omas, die mit winzigen Löffeln in rosa- und türkisfarbene Tortenstücke stachen. Nichts war anders als sonst. Trotzdem gelang Smutek der erste tiefe Atemzug seit Tagen. Er holte gleich noch einmal Luft und dehnte den Rücken. Das war der Augenblick, in dem Alev, vier Stockwerke über ihm, die Hände in Adas Kreuz drückte, um sie über den Gang zu schieben. Und plötzlich sah Klinger auf und erwiderte ein Lächeln, das Smutek gar nicht ausgesendet hatte.
    Ganz eindeutig ging es ihm besser. Etwas hatte sich gelöst, Vektoren richteten sich auf, die Raum-Zeit-Koordinaten streckten die Achsen, Chronos begab sich zu Tisch und setzte seine kannibalische Mahlzeit fort. Smuteks gefühltes Körpergewicht verringerte sich um zwanzig Pfund. Heute würde er Ada fragen, ab wann sie zum Lauftraining käme. Außerdem wurde es höchste Zeit, die traditionelle Klassenfahrt vorzubereiten, die jeder frisch gebackene Leistungskurs im ersten Halbjahr der Oberstufe unternahm. Er war gespannt, was sein Kurs zu Robert Musil sagen würde, und bei Musil fiel ihm ein, wohin die Reise gehen sollte. Nach Wien.
    Sechs vergangene Wochen hauchten innerhalb weniger Sekunden ihr Leben aus und verschwanden im Nichts, für immer getilgt. Was waren schon ein paar Wochen angesichts des immensen Reichtums an Zeit! Wie viel konnte man den Menschen jeden Monat stehlen, ohne dass sie es auch nur zur Kenntnis nahmen? Smutek stellte sich vor, dass sie das übermäßige Abnehmen von Zeit als ein natürliches Phänomen betrachten würden, ähnlich dem Gewichtsverlust von zum Trocknen ausgelegtem Obst. Gleich darauf fragte er sich, woher er dieses seltsame Gleichnis habe, das nicht recht zu seiner Denkweise passen wollte. Es musste aus den Internatsstockwerken zu ihm herabgesunken sein.
    Jedenfalls war er mit einem Mal sicher, dass die tauben Wochen soeben ihr Ende fanden, und er war froh darüber. Während er die Unterlagen für die nächste Stunde sortierte, ahnte er nicht, dass es sich um jene amtliche Frist gehandelt hatte, in der jeder vom Schicksal Betroffene sich gegen ein bevorstehendes Ereignis entscheiden kann und Gelegenheit erhält, das Steuer herumzureißen und seinem Fahrzeug im Blindflug eine neue Richtung zu geben. Wenige haben die Chance je genutzt. Es handelt sich eher um eine Formalität.
    Guten Morgen, die Herrschaften. Guten Morgen, Herr Smutek.
    Die Schüler wirkten lebhafter, ihre Haltungen auf den hölzernen Stühlen straffer, die Haare glänzender. Jemand hatte die Fenster gekippt, und Smutek konnte deutlich den Geschmack der Luft unterscheiden, die von draußen hereinwehte und nicht nur anders roch als die Luft auf Ernst-Bloch, sondern sich in einem ganz anderen Aggregatzustand befand. Frisch wie Wasser floss sie herein, brachte den Duft der Linden mit, die

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