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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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heißes Metall. Die Vorstellung, ein Mädchen wie Ada bei der nächsten Kreismeisterschaft zu melden, begeisterte und ängstigte Smutek in gleichem Maße. Es kam ihm vor, als wollte er ein Pony ins Derby schicken, auf dass es klein und robust, die Augen kaum über dem Tor der Startbox, mit dicker Mähne zwischen lauter langbeinigen, nervösen Vierjährigen stünde. Wenn er Ada im Geiste als Erste das Zielband durchtrennen ließ, kribbelte sein Zwerchfell auf eine Weise, wie er es zuletzt im Alter von vierzehn Jahren beim Spielen der Luftgitarre vor dem Garderobenspiegel erlebt hatte. Klein gegen Groß. Er war noch dabei, sich zu fragen, wie er sie zu einem höheren Tempo bewegen könne, als er merkte, dass sie schneller wurde.
    Es war keineswegs Smuteks Gegenwart, die sie vorantrieb, sondern der Gedanke an einen gewissen Jemand, der sich seit Wochen wie ein Parasit von ihren Kräften ernährte. Alev mit den Sphinxaugen. Alev mit dem unverschämten Lachen. Alev mit den zu kurz geratenen Gliedmaßen und den Fingernägeln einer Frau. Als Ada in die Knie gegangen war, um ihre Sportschuhe zu schnüren, hatten die Gelenke geknackt wie Eiswürfel in einem Glas warmen Wassers. Wochenlang war sie nicht gelaufen, hatte mit lahmen Knochen und schmerzendem Kopf auf der Lauer gelegen, ohne zu wissen, worauf sie wartete und wann es heraustreten würde aufs offene Feld. Heute aber hatte sich plötzlich etwas am Horizont bewegt. Ada hatte ein paar Schüsse abgegeben, vielleicht hatte sie getroffen, und was sie jetzt vorwärts trieb, waren Jagdfieber und Gier.
    Sie war nicht dumm genug, um dem Druck langer Fingernägel auf ihrem Arm zu glauben. Sie glaubte auch nicht an Alevs Hände zwischen ihren Schulterblättern und nicht an die Art, in der er vom klügsten Mädchen der Schule sprach.
    Ada war kein Mensch, der an etwas glaubt. Zu deutlich sah sie, welcher Natur Alevs Interesse war. Es war das Interesse eines ehrgeizigen Schachspielers an einem gut positionierten Springer. Nicht sein Herzblut hatte sie gekostet, sondern den Geschmack von Kampf und Sieg. Grüttels zittrige Finger am Feuerzeug. Bastians nervöses Warten. Tonis Unterwürfigkeit. Alev hatte ihr etwas vorgeführt, sie hatte geschaut und verstanden. Gemeinsam quetschten sie leichthändig süßen Saft aus den Gemütern der Opfer. Ada hatte begriffen, dass jenes höchste Stockwerk der Macht, in das er sie gebracht hatte, um ihr mit großer Geste das umliegende Land zu zeigen, für ihn allein ebenso unzugänglich war wie für sie. Zu zweit hingegen spazierten sie ohne Mühe hinauf. Sie sehnte sich nach der Sekunde, in der er sie für den Angriff einteilen würde.
    Zweimal pro Runde kam ihnen die Laufgruppe entgegen, lang gezogen wie Kaugummi, zwei Jungen an der Spitze, die sich bereits anschickten, die Nachhut zu überholen. Nach der fünften Runde begann Adas Rhythmus, sich den fremden Schritten an ihrer Seite anzupassen. Jemand lief neben ihr und redete unentwegt. In wellenförmigem Laut und Leise drang Smuteks Stimme zu ihr heran, wenn sie aus der Unterwasserwelt ihrer Gedanken auftauchte und wie ein Seehund die Ohren öffnete. Smutek sprach von Polen, genauer gesagt, von seiner polnischen Frau und einem polnischen Gedicht, das zu einer Erkennungsmelodie, zu einem wortreichen Motto des gemeinsamen Lebens geworden war. Während Ada sich fragte, was sie das angehe, wurde sie langsamer, wodurch Smutek, der in der festen Überzeugung auf sie einsprach, durch seine Beredungskünste ihr Tempo zu steigern, dazu veranlasst wurde, Zbigniew Herbert auf Polnisch zu zitieren.
    Lasy płonęły / a oni / na szyjach splatali ręce / jak bukiety róż / do końca byli mężni / do końca byli wierni / do końca byli podobni / jak dwie krople / zatrzymane na skraju twarzy.
    Das Gedicht wurde eher vom Takt der Atemzüge als von Versmaß und Betonung gegliedert, und es entspannte Adas Verstand, der seinen eigenen Wegen folgen musste, während der Körper kämpfte. Die Füße gehorchten dem Atemmaß und gewannen Geschwindigkeit. Smutek loopte die letzten Zeilen, do koń-ca by-li męż-ni do koń-ca by-li wier-ni, und wurde schneller, vorsichtig, um den Faden nicht zu zerreißen, an dem er Ada hinter sich herzog, die jetzt in vollem Tempo rannte, stampfend, schnell, blind bis auf das kleine Stück Welt direkt vor ihren Füßen. Indem sie sich der Ziellinie näherten, wechselte Smutek ins Deutsche. Er hatte die Arme fest an den Körper genommen und den Kopf zurückgebogen, griff mit langen

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