Spieltrieb: Roman
längst aufgehört hatten, Autodächer und Bürgersteige mit flüssigem Klebstoff zu beträufeln, und bereits eine Ahnung von Fäulnis und Feuchtigkeit in sich trugen. Die Natur bereitete sich auf Regengüsse und Herbststürme vor, die ihr das gelb gewordene Gewand vom Leib reißen und in den Schmutz werfen würden. Fünfundzwanzig Augenpaare in Blau, Grün, Braun und Grau folgten Smutek zum Fenster, sahen zu, wie er die Nase an den Spalt hielt und den Atem einmal tief bis zum Magen hinuntersog. Der Herbst war schon immer seine liebste Jahreszeit gewesen, moja ulubiona pora roku, wie Edyta Bartosiewicz sang, deren Texte zu den letzten Resten von Lyrik gehörten, die das vergangene Jahrzehnt, Wurmfortsatz eines auslaufenden Jahrtausends, hervorgebracht hatte. Zumindest solange man sie mit Musik konsumierte.
»Vielleicht sollte ich versuchen, Ihnen zwischendurch ein Stück polnischer Kultur nahe zu bringen«, sprach er zum Fenster hinaus und hörte selbst, wie unpassend die Bemerkung war, aus einer anderen Abteilung seines Denkens in die Deutschstunde hinübergeschwappt. Die Schüler würden ihn fragen, ob polnische Bauern überhaupt lesen und schreiben konnten, und ihm davon erzählen, dass es in seinem Heimatland nur Plumpsklos gebe und keinen Handyempfang. Er konnte es ihnen nicht einmal verübeln.
»Das ist eine hervorragende Idee«, sagte jemand in die Stille hinein, und auch wenn Smutek die Stimme nicht erkannt hätte, wäre ihm klar gewesen, dass Ada gesprochen hatte, weil niemand außer ihr das Wort >hervorragend< benutzte. Er schaute auf, sah, dass auch ihre Wangen weniger anämisch wirkten als sonst, wurde von einer Welle Zuneigung erfasst und konnte ein strahlendes Lächeln nicht aufhalten, das sich durch seine Gesichtsmuskulatur grub und ihn wie einen Idioten vor der Klasse stehen ließ, leuchtturmgroß, deplatziert wie ein voll ausgerüsteter Christbaum an einem Sommertag.
Als er den Kopf wandte, begegnete er Alevs schwarzen Augen und wusste sogleich, dass er sich nicht getäuscht hatte: Etwas war anders, ein neues Energiefeld hatte sich gebildet, verlief diagonal von der Tür bis zur hinteren Ecke an der Fensterfront und erfasste den gesamten Raum. Die Schüler hatten sich neu ausgerichtet gleich den stäbchenförmigen Energieträgern eines frisch gekämmten Magnetfelds. Er konnte darauf verzichten, Ada um Teilnahme am Lauftraining zu bitten, er wusste jetzt, dass sie von selbst erscheinen würde. Etwas Neues stand im Begriff zu beginnen, und Smutek freute sich darüber wie ein Masttier über die frische Luft, während es zum Schlachter geführt wird.
»Okay«, sagte er, überwand den unerklärlichen Glücksmoment und bekam seinen Gesichtausdruck wieder in den Griff. »Vielleicht bei Gelegenheit.«
Er fing an, von Robert Musil zu sprechen, vom Wien der vorletzten Jahrhundertwende und der Hochphase der Moderne. Er sprach von der bevorstehenden Auflösung im Ersten Weltkrieg, an die niemand geglaubt, die niemand vorhergesehen und die doch alles mit dem Flugsand des drohenden Untergangs überzogen hatte. Er sprach vom Verlust des Glaubens, vom Bröckeln der Werte, vom Freischärlertum eines entfesselten Geistes und der hysterischen Suche nach dem, was in längst vergangenen Tagen >die Seele< getauft worden war. Er erklärte Musils außergewöhnliche Gabe des absoluten Gehörs für Worte, die ihn befähigte, die einmal geschaute Welt in Sprache nachzuspielen, so leicht und fehlerfrei, als steckte keine Arbeit dahinter, sondern nichts als Inspiration.
In Musils Texten, behauptete Smutek, lägen Wahrheiten unter dem Staub der Jahre verborgen wie Gegenstände in einem Trödelladen, die, kaum dass man sie in die Hand nahm, in der Sonne zu glänzen begannen, und diesmal sank das verwendete Sinnbild nicht von der Decke herunter, sondern stieg direkt aus der Peristaltik seines Denkens herauf. Er sagte der Klasse, dass er mit ihr nach Wien fahren wolle, zu den mausoleenhaften Prachtbauten, zu schnörkligen Jugendstilcafes und schmuddligen Künstlerkneipen und zum fremdenfeindlichen Konservatismus einer Vielvölkerkapitale a. D.
Während er immer weiterredete, begann völlig zusammenhanglos Edytas Songs von der Lieblingsjahreszeit in seinem Kopf zu erklingen. Nasz dorn, bez drzwi bez okien zasnal, by w snie zimowym wiecznie trwac. Er würde es für sie übersetzen. Für wen, >sie Für sie, die Schüler, oder für sie, Ada. Vielleicht konnte man den Text wegen des vielen Schnees, der Irrwege und überhaupt der
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