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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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trunken aufs Bett fiele, versehentlich eine Schale mit Zigarettenkippen umwerfend, und dort zwischen Asche und Kissen liegen bliebe, ohne Leben, weich und warm und unterbeschäftigt wie eine Wohnungskatze.
    »Ich wusste nicht, dass du einen Bruder hast.«
    »Du weißt wenig über mich, und so wird es bleiben.«
    Weil Ada sich am Rahmen festhielt, konnte er die Tür nicht schließen.
    »In Ordnung«, lachte er. »Maurice ist drei Jahre jünger und wirklich schön. Groß, weißt du, lange Schenkel. Langes, lockiges Haar. Vielleicht stammt er von einem anderen Mann.«
    »Wo ist er?«
    »Er hat die Angewohnheit, sich zu Beginn des Schuljahrs ein Mädchen aus gutem Hause zu suchen. Sie verliebt sich in ihn, er besucht ihre Eltern und gibt sich selbst zur Adoption frei. So ist er überall zu Hause. Er ist anders als ich. Manchmal spielen wir Schach. Er hat noch kein einziges Mal gewonnen.«
    Er zog sie zurück auf den Flur.
    »Zieh die Schuhe aus.«
    Weil Ada breitbeinig stand wie ein Seemann, unter dessen Füßen der Boden zum Schwanken neigt, kamen auch ihre abgelegten Stiefel auf diese Weise zum Stehen, schulterbreit voneinander entfernt, die Spitzen nach außen gekehrt, als steckte eine zweite, unsichtbare Ada darin und bliebe wartend im Flur, bis der sichtbare Teil wiederkäme, um gemeinsam davonzugehen. Mit drei Knöcheln klopfte Alev an den Türrahmen, wartete mit schief gelegtem Kopf und drückte die Klinke.
    Drinnen saß ein sanftes Gespenst auf der Couch, die Beine im Damensitz zur Seite gefaltet, den Rücken über ein paar Unterlagen gebeugt.
    »Amila.«
    Bis sie den Kopf hob, kam eine filmreife Pause zustande, just a moment, je viens, ein sorgfältiges Lächeln in Bordeauxrot. Das Gesicht von feinen Falten durchzogen, die Backen prall und die Augen groß wie bei einem jungen Mädchen. Das helle Kopftuch zog eine exakte Linie rund um Stirn und Wangen, verdeckte sauber Haaransatz und Ohren und fiel, sich mit den übrigen Gewändern mischend, bis zu den Füßen. Die Haut war weiß gepudert, die Augen blau, die geschwärzten Wimpern und Brauen von Natur aus wahrscheinlich blond. Amila war eine Puppe. Im Nebenberuf war sie Alevs Mutter.
    »Das ist Ada.«
    Amila stand auf, streckte eine Hand aus, die seltsam nackt aus der Seide ragte, und fasste zu wie ein Mann.
    »Freut mich.«
    Die beiden Wörter reichten aus, um zu klären, dass sie Deutsche war. Sie sprach mit bayerischem Akzent. Ihre Hand, nach der Begrüßung freigekommen, stieg in die Höhe, als wäre sie leichter als Luft, näherte sich Adas Stirn, ein Finger schnappte heraus und fuhr mit der Kuppe die Brauen entlang.
    »Schön«, sagte sie. »Stark und dunkel wie das Herz. Sonst bringt Alev immer ausrasierte Ricken.«
    »Amila, Herzblatt«, sagte dieser mahnend, »du bist selbst am ganzen Körper rasiert.«
    Trocken lachte sie auf, trat neben Ada und legte ihr leicht den Arm um die Schultern.
    »Hör nicht auf den kleinen Mann«, sagte sie ihr ins Ohr.
    »Die Kerle in dieser Familie sind alle geistesgestört. Vermutlich ist das meine Schuld. Ich bitte dich im Voraus um Verzeihung.«
    »Bisher«, sagte Ada, »war immer ich es, der man verzeihen musste.«
    Amila suchte einen Blick in den grauen Augen und fand nichts.
    »Du könntest recht haben«, sagte sie. »Das wäre eine gute Nachricht. Ich sehe einen Verstand, scharf wie hundert Messer, und einen Willen, hart wie ein Schlachtblock. Eine Seele sehe ich nicht.«
    »An manchen Tagen«, sagte Alev, »hält Amila sich für ein Röntgengerät, das in alle Menschen hineinsehen kann.«
    »Wo ist dein Vater?«, fragte Ada.
    »Im Sudan«, sagte Amila, »und bald gehen wir auch dorthin.«
    »Ich nicht«, sagte Alev, und Ada, die dicht neben ihm stand, berührte hauchzart mit dem Handrücken seine Finger; es konnte ein Versehen sein, vielleicht auch Absicht.
    »Was macht er?«
    »Geschäfte«, erwiderte Amila streng, wie zu einem Kind, das nicht nach dem Beruf der Eltern fragen soll. »Seit dem elften September ist die Branche extrem beschäftigt. Ach, wir verdienen Geld!«
    »Okay«, sagte Alev, »das ist genug. Wir gehen rüber.«
    Zum Abschied wurde Ada auf beide Wangen geküsst und fand sich gleich darauf im Nebenzimmer wieder, einen ihrer Stiefel in jeder Hand. Polternd fiel das Schuhwerk zu Boden. Alev drückte sie auf Maurice' Bett.
    »Sitz«, sagte er. »Wir brauchen eine Zigarette.«
    Weil er nirgends eine volle Schachtel fand, machte Ada sich ans Drehen.
    »Ist dein Vater Moslem?«
    »Grundsätzlich ja,

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