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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Persönlichkeit betreffen.«
    »Okay.« Das Glas hielt sie auf der Brust, so dass der Wasserspiegel im Takt der Herzschläge zuckte. Sie war erschöpft wie ein Kontinentaleuropäer nach seinem ersten Tag im britischen Linksverkehr. Was auch immer in ihren Gesprächen passierte -es kam von der falschen Seite.
    »Wenn du mich etwas wissen lassen willst, dann sprich.«
    Alev erzählt Wesentliches aus seiner
    Kindheit
    U nd er begann zu sprechen. Ganz entgegen seiner Gewohnheit machte er Pausen dabei, als lauschte er am Telefon auf die Erwiderung eines unsichtbaren Gesprächspartners. Ab und zu schob er den Kugelschreiber, mit dem er in der Luft gestikulierte, unter die aufgerollten Ärmel seines Hemds und kratzte sich in den Achselhöhlen.
    Als Kind war ich seltsam. Meine Mutter ertappte mich im Badezimmer, wie ich ein zusammengedrehtes Handtuch gegen die Wand schlug. Das ist böse, rief ich, böse!, böse! Das Handtuch war dreimal vom Haken gefallen und musste bestraft werden. Als meine Mutter fragte, wie man eine Sache bestrafen könne, die doch an nichts schuld sei, fing ich an zu brüllen. Nicht schuld? Jedes Handtuch weiß, dass es am Haken hängen soll! Ich war ein Vielvölkerstaat und wollte den Bürgerkrieg in meinem Inneren durch strenges Reglement unter Kontrolle bringen.
    Und so ging es fort. Ada holte sich die zweite Zigarette, die er verschmäht hatte, vom anderen Bett, ohne dass Alev seine Ausführungen unterbrochen hätte. Er stand mitten im Zimmer und sprach zu Decke und Wänden, die aufmerksam zuhörten. Ob er frei phantasierte oder tatsächliche Begebenheiten in seltsame Gewänder kleidete, war nicht zu unterscheiden. Offensichtlich wollte er auf etwas hinaus und wählte schlicht den Weg mit der schönsten Aussicht. Ada konnte nicht wissen, dass er in dem Moment, als sie die Kürbiskerntüte warf, seinen nächsten Befehl erhalten hatte. Er lautete: Schenk ihr etwas von dir, das sie mit sich herumtragen kann wie einen bizarr geformten Stein. Etwas, das nur ihr gehören wird. - Sie legte sich wieder aufs Bett.
    Als Kind suchte ich Hilfe gegen Dinge, die ich nicht verstand. Meine Mutter kam mir mit verschiedenen Religionen, aber diese glichen einer Sammlung von Fabeln, deren einziger Zweck darin bestand, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Die Entscheidung zwischen Gut und Böse aber war die simpelste Sache der Welt, für die ich keinen Ratgeber benötigte: Gut war alles, was dem Überleben diente, und schlecht, was es zu zerstören drohte. Die Sehnsucht nach Gott war bloß der Wunsch nach einem netten Chef. Mir fehlte etwas anderes.
    Die Erkenntnis kam in Gestalt eines Autounfalls, der mir alles darüber verriet, was der Mensch ist. Danach gab es keine geprügelten Handtücher mehr. Danach hörten die Bomben auf zu fallen. Danach war der kleine Alev ein Mann geworden. Ein Mann von zehn Jahren.
    Im Jahr 1995 pflegte ich mit meinem Vater im Auto durch Belgrad zu fahren. Er hatte einen rührend kleinen Sportwagen vom Typ Alfa Giulia Spider ins Land gebracht, drehte das hölzerne Lenkrad mit einer Hand, und wir glitten mit heruntergelassenem Verdeck wie in einem exotischen Segelboot durch das stinkende Meer osteuropäischer Wagen. Der große El Qamar zog an Fäden, die ihn mit dem bevorstehenden Friedensschluss verbanden. Der kleine El Qamar durfte vorne sitzen, weil der Zweisitzer über keine Rückbank verfügte, und bettelte deshalb um Mitnahme zu jedem Gesprächstermin. Meine Schultern fühlten sich breit an auf dem ledernen Beifahrersitz, und wenn ich mit dem Hintern bis auf die Kante rutschte, erreichten die Füße den abgeschrägten Boden des Fußraums. Der Vater ließ mich die linke Hand auf den Schaltknüppel stützen, legte seine großen Finger über meine, und wir wechselten gemeinsam die Gänge.
    Beim Verlassen eines Parkhauses in der Innenstadt rollten wir durch enge Betontunnel auf die schwarzgelben Schranken zu. Der Vater hatte den Parkzettel zwischen die Lippen geklemmt und den Ellenbogen auf den Rand der Fahrertür gelegt. Es war Sonntag, beide Ausfahrtmöglichkeiten waren leer, kein weiterer Wagen in Sicht. Wenige Meter vor der Haltelinie teilte sich die Spur. Der Vater ging nicht vom Gas. In mäßigem Tempo fuhren wir auf dem Trennstrich, weder auf der linken noch auf der rechten Seite, sondern genau in der Mitte, und bevor ich Zeit hatte, etwas zu sagen, zu schreien oder auch nur die Augen aufzureißen, krachte der Wagen frontal gegen den Betonpfosten, der die beiden Schleusen

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