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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Beinen in die Luft und bekam die Silben nur noch stoßweise heraus.
    Wälder brannten / aber sie / banden ihre hände um die hälse / wie rosensträuße zusammen / sie waren tapfer bis zum Schluß / sie waren treu bis zum Schluß / sie glichen sich bis zum Schluß / wie zwei tropfen / angehalten am rand des gesichts.
    Seine Finger fanden die Stoppuhr zu spät. Mindestens sechs Sekunden würde er abziehen müssen. Selbst wenn er nur drei oder vier abgezogen hätte - die Zeit blieb grandios. Seine Schläfen pochten, als hätten Blut und Hirnmasse beschlossen, sich einen Weg ins Freie zu suchen. Er sah Ada hinterher, die weiterlief, lockerer, gemächlich, mit halb geschlossenen Augen, immer mit dem Uhrzeigersinn, und war nicht sicher, ob sie auch nur eins seiner Worte gehört hatte.
    Alevs Innenleben. Erste Berührungen und eine Art Gespräch
    N ach Adas Besuch im Internat mussten vierzehn Tage verstreichen, bevor Alev sich ihr erneut zuwenden konnte. Warum das so war und warum es so unverbrüchlich feststand, wusste er selbst nicht genau. Die Fahrpläne seines internen Nahverkehrssystems wurden von einer Instanz erstellt, deren Gesetze ihm nicht verständlich waren. Sie diktierte eine Strategie des Vor und Zurück, als gälte es, ein Rudel hartnäckiger Verfolger zu verwirren. Sie verbot ihm, Prioritäten zu setzen. Er durfte niemals die Wahrheit, sondern höchstens das Gegenteil des Gegenteils der Wahrheit behaupten. Alev arbeitete wie ein Nachrichtendienst, der den Gesamtplan hinter seinen Aufträgen nicht kennt.
    Ein Zwischenziel bestand darin, Adas Fähigkeiten in seine Dienste zu nehmen. Ihr Schweigen war eine Deckung, aus der heraus er zielen konnte mit aller gebotenen Ruhe und Präzision. Ihre Mauern waren hart und kalt und würden Angriffen trotzen, denen Alev allein nicht standhalten konnte. Allein war er ein Partisane, zusammen waren sie eine Armee. Er hatte ihr etwas gezeigt, und sie hatte verstanden. Sie hatte seine Berührung beantwortet. Nach diesem Erfolg war es an der Zeit, sie warten zu lassen. Er musste sich anderen Dingen zuwenden und die eigene Aufmerksamkeit zerstreuen. Es gab viele Figuren im Spiel und viele denkbare Gründe für die Befehle, die Alev erhielt. Es war wichtig, das geheime Ziel zu vertuschen, vor allem vor sich selbst.
    Dieses Mal ging Alev mit besonderer Sorgfalt vor. Ganz deutlich spürte er, dass er sich nunmehr der Verwirklichung einer Absicht näherte, für die alles Bisherige nur Vorübung gewesen war. Auf verschiedenen Schulen hatte er gelernt, innerhalb kürzester Zeit die Zentren der Macht zu identifizieren und dort einzudringen, Kontakte zu knüpfen, Intrigen zu schmieden, Interessen auszukundschaften und zu instrumentalisieren, Seilschaften zu sprengen und neu zusammenzufügen. Immer wenn es ihm gelungen war, ein Netzwerk zu errichten, das auf den kleinsten Anstoß seiner Hände sensibel reagierte, so dass er ohne weiteres in der Lage gewesen wäre, eine schulinterne Revolution auszulösen, eine Bank zu überfallen oder einen Kinofilm zu drehen, hatte er die Stadt verlassen und an anderem Ort neu anfangen müssen. In diesem Fall sollte es anders werden. Er hatte seinen Eltern den Entschluss unterbreitet, bis zum Abitur oder Rausschmiss auf Ernst-Bloch bleiben zu wollen, und das unabhängig von der Frage, wo sie sich ihrerseits herumtrieben. Eine Antwort stand noch aus. Es konnte nicht schaden, sich frühzeitig aufs Internat zu konzentrieren, das ihm zudem gut gefiel, hoch unterm Dach, ein Taubenschlag für Freaks und Favoriten.
    Es würde nicht lange dauern, bis er dort zum gefürchteten und begehrten Mittelpunkt des Geschehens avanciert war, zu einem König ohne Volk, dem die Untertanen in Scharen nachliefen, gerade weil er sich weigerte, ihre Gefolgschaft zu akzeptieren. Er hatte das Spiel an verschiedenen Orten der Welt gewonnen, und in diesem Land war es erfahrungsgemäß leichter als überall sonst. Hier lebte eine Nation ohne Väter, ohne Vorbilder, Meister, Könige oder Götter, ohne Überzeugungen, Wünsche für die Zukunft, sogar ohne brauchbare Erinnerungen an die Vergangenheit. Alevs Einschätzung nach würden die Lehrer und Schüler auf Ernst-Bloch leichter zu gängeln sein als eine Schafherde nach Verlust des Leithammels. Er brauchte nur ein wenig Zeit, um die Regeln ex usu zu erlernen, jeden möglichen Zug zu versuchen und die Figuren in Stellung zu bringen. Anders ließ sich ein Spiel ohne identifizierbare Ziele, ohne bekannte Gegner und ohne geschriebenes

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