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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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gleichzeitig Gewohnheitsatheist.« Er sprang auf, um die Stereoanlage in Betrieb zu nehmen. »Es war ihre eigene Entscheidung. Wenn eine Frau viel allein ist, braucht sie Allah. So hat sie etwas, das nur ihr gehört. Jedenfalls in Deutschland. In arabischen Ländern legt Amila den Tschador ab. Sie will keinen Gott, der schon Millionen anderer Frauen besitzt.« Zwei Orchester schienen gleichzeitig verschiedene Stücke zu spielen, daneben sangen ein gewalttätiger Bass und eine arrogante Gitarre. Ada hatte die Zigaretten fertig gestellt, warf eine auf das gegenüberliegende Bett und steckte die andere an. Alev kam nicht zur Ruhe, rannte hierhin und dorthin und verbreitete einen Störton, den Amilas Gegenwart in ihm erzeugte. Wenn sie in der Nähe war, verstand er seine Befehle nicht mehr, und dafür hasste er sie wie einen Betonklotz, der ihm die freie Durchfahrt verwehrte. Am Schreibtisch wühlte er in Büchern und drückte Ada eins in die Hand, als wäre sie eine lästige Studentin, die sich vom enervierten Professor mit etwas Literatur abspeisen lässt. Ada legte es ohne einen Blick auf den Titel beiseite.
    »Ich hasse Zeitverschwendung«, sagte sie.
    »Alle Männer haben ein erotisches Problem mit ihren Müttern. Das ist sehr anstrengend. Bei Amila besonders.«
    »Verlorene Zeit«, betonte sie störrisch, »ist wie tausend kleine Tode.«
    Er hatte Adas Widerstand erwartet und sich darauf gefreut. Aber ihr Kampf gegen ihn, gegen seine Mutter und gegen die überhebliche, traurige, verdorbene Extravaganz dieser Unterkunft besaß einen Geschmack, auf den er nicht vorbereitet war. Ada zeigte sich nicht im mindesten beeindruckt vom Märchenduft einer semiorientalischen Vagabundenfamilie. Sie war überaus stur, kein verspieltes, widerspenstiges Jungtier, sondern klumpfüßig und bullig, mit einer Gegenwehr bewaffnet, die ihn innerlich zusammenschrumpfen ließ, bis sein Verstand sich schmerzhaft von der zu groß gewordenen Hülle löste. Wenn es nicht gelang, dem eingefädelten Nachmittag eine andere Richtung zu geben, würde Ada eine Möglichkeit aufspüren, ihn zu verachten. Unter dem Kopfkissen entdeckte er ein Plastiktütchen mit Kürbiskernen. Jetzt saß er neben ihr, seine rechte Hüfte an ihrer linken, knackte die Kerne geschickt wie ein Eichhörnchen mit den Vorderzähnen und spie Schalen auf den Teppich.
    »Bei Zeitverschwendung, Alev«, sagte Ada, und es war das erste Mal, dass sie ihn mit Namen ansprach, »gerate ich in Panik. Eine Stunde im Wartezimmer eines Internisten, und ich bin bereit zu töten. Egal wen. Auch Kinder.«
    »Das klingt sehr schön, Kleinchen«, sagte er, »aber es ist unökonomisch.«
    Das >Kleinchen< war gut gewählt, es machte sie glücklich.
    »Es geht nicht um Ökonomie. Meine Glieder führen Kommandos aus, die ich ihnen nicht diktiert habe. Wenn die Möglichkeit besteht, gehe ich auf die Tartanbahn. Oder ich schlage etwas kaputt.«
    »Und was verteidigst du«, fragte er, »während du ständig gegen die Zeit kämpfst?«
    »Nichts. Ich bin einfach sterblich, wie andere Leute erkältet sind. In jeder Sekunde spüre ich die Symptome.«
    »Dass du eine Verurteilte bist, wusste ich gleich, als ich dich zum ersten Mal sah.«
    Einen Moment lang hing die Vorstellung im Raum, dass es diese Begegnung sein könnte, die Begegnung zwischen Ada und Alev, die zu verteidigen sich eines Tages lohnen würde. Dann spuckte Alev den nächsten Kürbiskern.
    »Einmal sagte ich dir, dass Zeit der einzig wahre Besitz des Menschen sei. Warum versuchst du jetzt, mich auf diesem Pfad zu überholen?«
    »Weil ich dir etwas Wichtiges mitteilen will.« Sie nahm ihm die Tüte weg, holte aus und schleuderte sie so heftig gegen die Wand, dass ein prasselnder Regen aus Kernen niederging, während der Plastikbeutel hinter den Büchertisch rutschte und zu Boden fiel. »Es handelt sich um Folgendes. Was auch immer wir in Zukunft miteinander zu tun haben werden, verschwende niemals meine Zeit. Verstanden?«
    Er nahm ihre rechte Hand, die geworfen hatte, in die seine, führte sie an die Lippen und entließ einen kaum spürbaren Kuss auf die Knöchel.
    »Verstanden. Was verlangst du?«
    »Erklär mir, warum du mich hierher gebracht hast.«
    Er stand auf, hielt die Musik an und sah, wie Ada erleichtert aufatmete. Sie löschte die Zigarette, füllte Wasser aus einer offenen Flasche in ein schmutziges Glas, trank und ließ sich auf den Rücken sinken.
    »Vermutlich wollte ich ein paar Andeutungen machen, die das Fundament meiner

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