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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Regelwerk kaum in Gang bringen.
    Zwei Wochen lang würdigte er Ada keines Blickes, hielt nicht vor ihr an, wenn sie vor dem Klassenzimmer auf ihn wartete, gab die Bälle nicht zurück, die sie ihm im Verlauf von Höfis Debatten zuspielte, und ignorierte ihre Äußerungen, die erste forschende Schritte auf seinem gedanklichen Territorium meldeten. Sie würde warten. Sie würde keinen Millimeter zurückweichen und ihrem Anliegen keine neue Richtung geben. Für eine Weile hatte er sie sicher.
    Einstweilen machte Alev sich die Erde Untertan. Grüttel und Bastian, die sich langweilten, gern über seine Witze lachten und ihn gratis mit Alkohol und Drogen versorgten, boten eine optimale Plattform für eine Neuordnung der Schaltzentralen und Schnittstellen schulischer Macht. In ihrem Dunstkreis existierte eine Junta aus männlichen Parteigängern, die in ihrem jeweiligen Wirkungsbereich die Rolle des Alphatiers innehatten und Alev unbesehen aus der Hand fraßen, sobald sie bemerkten, dass er im Begriff stand, sich zum König ihrer Könige aufzuschwingen. Auf dem weiblichen Sektor hatte er noch leichteres Spiel. Er sammelte Liebeserklärungen von Prinzessinnen aller Altersstufen, die ihre kleinen Erwachsenengesichter zu Fratzen kindlichen Schmerzes verzogen, wenn er seine Finger auf ihren Hälsen, Schultern und Wangen spielen ließ und mit Bedauern erklärte, dass ihn die Vielzahl der Angebote entscheidungsunfähig mache. Daneben gab es außer den Mädchen, die bereit waren, in Internatsbetten für die vorübergehende Zugehörigkeit zum Kreis der Auserwählten genauso viel zu tun wie ein Junkie für den nächsten Schuss, einige handverlesene weibliche Exemplare, die sich in Ikonen verwandelt hatten, von den Mächtigen mittelmäßig beachtet, vom Rest der Schule vergöttert und beneidet. Das Auftauchen eines Freischärlers erleichterte ihnen das Martyrium der Exklusivität.
    Als genug Zeit verstrichen war, stellte er sich nach Schulschluss auf die dritte Stufe der Treppe zum Hauptportal. Es dauerte kaum eine halbe Minute, bis Ada neben ihm stand. Er reichte ihr eine selbst gedrehte Zigarette, die er während der letzten Stunde aus einem geborgten Tabaksbeutel für sie vorbereitet hatte, gab Feuer und begleitete sie, über Nichtigkeiten plaudernd, auf dem Heimweg durchs Villenviertel. Um ihn zu testen, verhielt sie an der letzten Kreuzung den Schritt und schickte sich an, in die falsche Seitenstraße abzubiegen. Er jedoch fasste sie lachend am Arm, natürlich wusste er längst, wo sie wohnte. Das vertraute Gebäude erschien ihr in seiner Gegenwart mit einem Mal völlig fremd. Alev verwehrte ihr das Öffnen des Gartentors, zog sie weiter die Straße hinunter, einmal links um die Ecke und auf den nördlichen Rand des Villenviertels zu. Vor einem kleinen Haus blieben sie stehen. Es war im schmucklosen Stil der fünfziger Jahre erbaut und bei weitem nicht so herrschaftlich wie die Prachtanwesen in Adas unmittelbarer Nachbarschaft. Am unteren Rand eines nachträglich angesetzten Balkons hing ein schmales Schild: PENSION. Alev lächelte wie ein Magier nach gelungenem Zaubertrick. Während sie den Eingangsflur einer fremden Familie durchquerten, vorbei an Rattanmöbeln, Trockenblumen und einer angelehnten Küchentür, durch die der Geruch eines vegetarischen Mittagessens drang, dachte Ada darüber nach, was es bedeuten mochte, dass sie jede Nacht den Kopf auf ein Kissen gebettet hatte, das nicht mehr als fünfhundert Meter Luftlinie von Alevs Bett entfernt lag. In Alevs Nähe schien alles Zeichen oder Wunder.
    Die Pensionszimmer lagen im ersten Stock. Flüchtig öffnete Alev die erste Tür und ließ Ada hineinsehen. An den langen Wänden stand je eine schmale Liege. Ein Armstuhl ertrank unter Kaskaden abgeworfener Kleidungsstücke, auf einem antiken Tischchen rutschten Bücherstapel übereinander und ließen keinen Platz zum Lesen oder Schreiben. Ada entdeckte ein paar alte Bekannte, Machiavelli, Nietzsche und Derrida. Überall standen volle Aschenbecher. Am Boden zählte Ada fünf einzelne Springerstiefel, die zu groß waren, um Alev zu gehören. Das Fenster ließ sich nicht öffnen, weil eine würfelförmige Stereoanlage das Fensterbrett blockierte. Ada stellte sich vor, in diesem Zimmer auf Alev zu warten, beide Ellenbogen auf die Musikanlage gestützt, die hässliche Gardine als Brautschleier über dem Kopf. Sie würde die Nase in den beiden Hälften des großen Kopfhörers vergraben und den Geruch seiner Haare einsaugen, bis sie

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