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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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voneinander trennte. Scheinwerferglas splitterte, der Pfeiler drückte dem kleinen Spider eine tiefe Hasenscharte ins Gesicht. Ich wurde gegen das Holz der Armatur geschleudert.
    Ohne einen Kratzer, aber stumm vor Entsetzen richtete ich mich auf, saß reglos und starr und sah abwechselnd auf schwarzgelben Stahl, viel zu dicht vor der Windschutzscheibe, und auf den Vater. Der hielt die Hände auf dem Lenkrad, blickte geradeaus und machte eine gleichzeitig verwunderte und belustigte Miene, als könnte er nicht glauben, was eben geschehen war. Von links näherte sich ein Mann in blauer Uniform. Als dieser schon nah herangekommen war, neigte sich der Vater mir zu.
    »Weißt du, was passiert ist?«, flüsterte er und sah noch immer nach vorn auf Beton und zerdrücktes Metall. »Plötzlich konnte ich mich nicht entscheiden. In Wahrheit gibt es kein Für und Wider, keine Gründe für rechts oder links. Merk dir das, Söhnchen. Was die Menschen täglich ihre Entscheidungen nennen, ist nichts weiter als ein gut einstudiertes Spiel. Es tut mir leid.«
    »Macht nichts«, flüsterte ich schnell zurück, während sich die rosafarbenen Hände des blau Uniformierten auf die Beifahrertür legten. Man hatte mit mir wie zu einem Erwachsenen gesprochen. Ich hatte verstanden. Bis zum Abend hatte ich den Wortlaut der Wahrheit auswendig gelernt. Es gibt kein Für und Wider, keine Gründe für rechts oder links. Die menschliche Entscheidung ist nichts weiter als ein vortrefflich einstudiertes Spiel.
    Die letzten Silben sprach Alev direkt in Adas Gesicht. Er kniete vor dem Bett. Sie hatte die Augen geschlossen. Fremder Atem strich ihr über die Lippen, um sich mit dem eigenen zu mischen. Sie sog ihn ein und blies ihn wieder hinaus.
    »Das«, sagte Alev und fasste ihren Arm, »war alles.«
    Sofort stand sie auf, stieg in ihre Stiefel, ohne die Schnürsenkel zu knoten, griff nach dem Rucksack und wurde von Alev auf den Flur und die Stiege hinuntergedrängt. Schon auf den Eingangsstufen schloss er ihre Finger um die Kanten des Buchs, das er auf dem Tisch für sie gesucht hatte, und presste es gegen ihren Körper. Stumm begrub er ihre Gesichtszüge unter seinen Fingern, die einst für einen größeren Mann entworfen worden waren, und berührte ihre Lippen mit seinen, ohne Druck, ohne Kuss, nur ein Streichen, ein Hauch. Sie ging die Treppe hinunter und die Gasse entlang, hielt das Buch weiter vor dem Bauch und wusste, dass er ihr nicht nachschaute, sondern längst im Inneren des Hauses verschwunden war.
    Ada spricht mit ihrer Mutter und zupft sich die Augenbrauen
    D er Weg nach Hause nahm kaum zwei Minuten in Anspruch. Das Gartentor erreichte sie mit dem unklaren Gefühl, dass alles hier um eine Winzigkeit verändert war. Warum plätscherte der Springbrunnen? War er nicht seit Wochen ausgeschaltet, weil herabfallende Blätter die Pumpe verstopften? Hing schon immer ein Vogelhaus in der Tanne? Ada glaubte nicht, dass jemals eine Vogelfamilie im Garten genistet hatte. Bei Sonnenuntergang schnaufte manchmal ein fetter Igel durchs Gras, trug Blätter und kleine Zweige auf seinen Stacheln und holte sich mit lautem Schmatzen ertrunkene Nacktschnecken aus den Biergläsern in der Rabatte. War die Fassade schon immer in einem so rötlichen Farbton gestrichen, oder kam das vom frühen Abendlicht? Hing der Himmel seit jeher so tief überm First? Vor allem fehlte etwas Entscheidendes. Es fehlte das Schild PENSION. Denn auch in diesem Haus waren die Menschen immer zu Gast und niemals zu Hause.
    Auf dem Plattenweg zum Hauseingang schrak Ada zusammen, als es im Vorgarten heftig raschelte. Die Einmischung eines Hortensienbuschs hatte den gebückten Nachbarn ihren Blicken entzogen. Nun richtete er sich auf und lüftete einen albernen Strohhut, den er heute über dem Anwaltsgesicht trug.
    »Fräulein Ada!«, rief er scherzhaft. Seit sie denken konnte, nannte er sie so, und seit sie denken konnte, bewohnte er mit einem Haufen Fachbücher die untere Etage. »Zeig mal her. Was liest du denn da?«
    »Keine Ahnung.«
    »Du trägst ein Buch mit dir rum, dessen Titel du nicht kennst?« »Streuen Sie Schneckengift?«
    »Unter anderem. Warum?«
    »Wissen Sie, dass Schneckengift auch Igel tötet?«
    Er hatte ihr das Buch aus der Hand genommen, betrachtete das Titelblatt und las den Klappentext.
    »Wer solche Bücher spazieren trägt, sollte keine Probleme mit toten Igeln haben.« Als sie es wieder an sich nehmen wollte, hielt er es hoch in die Luft, um sie zu necken. Ada

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