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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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machte keine Anstalten, danach zu springen wie ein Hund nach der Wurst.
    »Im Vergleich zum Großteil der Menschheit«, sagte sie, »scheinen mir Igel die moralisch einwandfreien Wesen zu sein. Und jetzt geben Sie mir das Scheißbuch zurück.«
    Er ließ es fallen, und sie fing es mit beiden Händen, bevor es auf den erdigen Boden schlug.
    » Evolution of Cooperation«, las sie. »Was ist das?«
    »Spieltheorie«, sagte er. »Abgesehen von ein paar Mathematikern gibt es nicht viele Leute, die das verstehen.«
    »Aber Sie schon?«
    Er zuckte die Achseln. »Einem Juristen kann es nicht schaden, etwas über die rechnerischen Spielregeln menschlichen Verhaltens zu wissen. Viel Spaß damit.«
    Im Treppenhaus stand am oberen Absatz die Mutter.
    Wo warst du denn. Bei Alev. Wer ist Alev? Der Neue in unserer Klasse. Wo kommt er her? Halb-Ägypter.
    Ada drängte sich an ihr vorbei in die Wohnung, streifte die Schuhe ab und schob das Buch unter die Klappe des Armeerucksacks. Auf dem Weg zur Wendeltreppe hielt die Mutter sie auf. Komm erst mal zu Tisch. Sie erschien mit Brotkorb und einem kleinen Tablett in der Küchendurchreiche. Das ist Gänseleberpastete. Gab es bei PENNY, ich hab es heute früh in der Zeitung gelesen. Man muss sich auch mal was Gutes tun, nicht?
    Ada balancierte auf der vordersten Kante des Stuhls und bestrich dünn geschnittene Brotscheiben mit rosig grauer Paste.
    »Ist er netter als Olaf?«
    »Bei Alev ist >nett< nicht die richtige Kategorie.«
    »Werdet ihr euch ineinander verlieben?«
    Inständige Hoffnung verlieh der Frage der Mutter den beschwörenden Klang einer Prophezeiung. Ada erlaubte sich ein kurzes Ziehen in der Magengrube, drei bis vier beschleunigte Herzschläge und ein scheues Lächeln. Warum nicht, nur für ein paar Sekunden, es gab sonst so wenig, das Bewegung verursachte. Immerhin, dachte sie, leben wir alle von den Irrtümern, die unsere Mitmenschen über uns hegen.
    »Weißt du, was der Unterschied zwischen uns ist?« Ada sprach mit vollem Mund. »Du glaubst nicht an die Liebe, weil dein Mann dich verlassen hat.«
    »Er hat mich nicht verlassen. Ich habe ihn rausgeworfen.«
    »Und ich glaube nicht an die Liebe, weil ich keinerlei Glaubensfähigkeit besitze.«
    »Das ist seine Schuld!«
    Der Mund der Mutter grimassierte unendlichen Schmerz, rasch rötete sich das Weiße der Augen. Seit sie Kontaktlinsen trug, weinte sie noch häufiger als früher.
    »Mit meiner Unfähigkeit zu glauben hat der Brigadegeneral weniger zu tun als Immanuel Kant. Wahrscheinlich bin ich ohne Glauben zur Welt gekommen, wie andere Leute ohne Arme oder Augenlicht geboren werden. Man lebt ein bisschen anders als der Rest und kommt trotzdem klar.«
    »Das Gleiche hätte er auch geantwortet, nicht? Du bist völlig von ihm besessen.«
    »Mutter. Wir hatten über Alev gesprochen.«
    Richtig. Wann kommt er zu Besuch? Ich weiß nicht, ob er kommt. Er ist nicht nett, und er ist schwer einzuschätzen. So ist es am Anfang immer, das musst du genießen. Mutter, du verstehst nichts.
    »Sag nicht immer, dass ich nichts verstehe! Du irrst.«
    Ada konnte sich nicht erinnern, das Wort >irren< früher schon einmal aus dem Mund der Mutter gehört zu haben. Irren setzte die Nichtidentität von Wirklichkeit und eigener Vorstellung voraus und verlangte damit einen Kontext, welcher der Mutter völlig fremd war. Jetzt fragte Ada sich, ob es sein könne, dass sie selbst sich irrte, und zwar in dem einzigen Menschen, mit dem sie tagein, tagaus auf engstem Raum zusammenlebte. Vielleicht verstand die Mutter alles, und sie, Ada, verstand überhaupt nichts.
    »Ich wollte dich um etwas bitten. Könntest du mir zeigen, wie man Augenbrauen zupft?«
    »Klar.«
    Ihre Laufschuhe hätte sie darauf verwettet, dass die Mutter diese Bitte ausschlachten würde als ersten Bodengewinn im jahrelangen Kampf um den Körper der Tochter. Aber nichts. Sie hockten am Esstisch, der für eine Gesellschaft von zehn Personen zugeschnitten war, und das müde Sonnenlicht füllte wie etwas Gegenständliches den Raum. So oft hatten sie hier schon zusammengesessen, dass das Tischtuch mit dem Rosenmuster abgeschabte Flecken hätte aufweisen müssen, an den Stellen, wo die Mutter mit immer gleicher Bewegung über den Stoff strich, während sie Ada ermahnte, das süße Erbgut ihres natürlichen Vaters gegen den intellektuellen Einfluss des Brigadegenerals zu verteidigen, der betörend und verderblich sei wie eine Droge. Bei solchen Gelegenheiten pflegte Ada die

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