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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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smaragdblau, an den Rändern mit einer bösen Vorahnung von Winter verziert, der die frische Luft gefährlich würzte und die Lungenlappen kitzelte in erster Ankündigung jener Nadeln und Klingen, die im Januar jeden Atemzug in eine Attacke verwandeln würden. Ohne um Erlaubnis zu fragen, hatte Smutek das >Sie< fallen lassen und redete Ada in kumpelhaftem Ton an wie eine alte Studienkollegin. Himmelherrgott, Ada, bei solchem Wetter kann man Runde um Runde drehen, und die Luft füttert einen wie Muttermilch.
    Begeistert probierte er sein neues Spielzeug aus, schneller, langsamer, Sprint und Ausdauer, und Ada tat gutmütig mit, weil sein Ehrgeiz sie belebte und weil es nicht viele Menschen gab, die ein Ziel im Leben kannten. Am Ende der Trainingsstunden entließ er die Gruppe, die sich beineschlenkernd, die Sporttaschen geschultert, auf den Parkwegen zerstreute, und setzte noch einmal die Stoppuhr in Gang. Zwei Prinzessinnen waren nicht wiedergekommen, weil sie glaubten, dass Smutek scharf auf Adas dicke Beine sei. Adas Zeiten wurden besser, was nicht am Training lag, sondern daran, dass sie bei ihren ersten gemeinsamen Runden noch lange nicht alles gegeben hatte. Smutek hatte sich angewöhnt, neben ihr zu rennen, inzwischen synchronisierten Schritte und Atmung sich wie von selbst. Ein, tapp, tapp, tapp, aus, tapp, tapp, tapp. Und immer wusste er etwas zu erzählen. Von seinem Haus in Masuren, vom Herbst und von taumelnden Blättern, die sich im Fallen einem Zwilling näherten, der im gleichen bunten Gewand aus der Tiefe des Sees heraufstieg, bis sie sich auf der Wasseroberfläche begegneten.
    Er berichtete von den verschiedenen Gerüchen des Holzstapels an der Außenwand seines Hauses, vom kränklichen Atem des Dachstuhls, der zum Modern neigte, von der Küche, in der alles, Spüle, Schränke und Tisch, Produkt seiner eigenen Hände war, und von den Hausspinnen, die in den Winkeln der Fensterrahmen kleine Höhlen bauten aus dichtem Fadengewirr. Alles roch, alles war feucht in Erwartung des Winters, und der See war ein Waschbrett, an dem die Luft sich rieb. An einem solchen Ort konnte man ohne weiteres seine Seele aufbewahren. Ob Ada sich das vorstellen könne? Konnte sie nicht, da er auf Polnisch zu ihr sprach. Er erklärte den Duft der Haare seiner Frau, wenn sie das Gras gemäht hatte und von draußen hereinkam, um in der Küche Kaffee zu kochen, den Anblick ihrer langen, weißen Mädchenschenkel, die an die abschraubbaren Beine einer Schaufensterpuppe erinnerten, wenn sie sich mit Sofakissen und Buch auf den Boden der Terrasse setzte, um noch ein wenig Sonne an den Körper zu lassen, bevor der Winter kam. Ach, übrigens, was hast du mit deinen Augenbrauen gemacht?
    Smutek schöpfte mit vollen Händen aus seinem Innersten. Er glaubte, die Schwelle zu jenem Leben überschritten zu haben, das seit langem für ihn bereitgehalten wurde und das zu suchen jahrelang seine Aufgabe gewesen war. Teuter ließ ihn in Ruhe und konzentrierte seine Energien auf die Pläne des Ministeriums zur Streichung des dreizehnten Schuljahrs. Manchmal nahm Höfi ihn mit in das Omacafe, das anstelle des Lehrerzimmers auf Ernst-Bloch zu seiner zweiten Heimat geworden war, und bremste Smuteks Euphorie für eine Klassenfahrt nach Wien mit dem schlichten Hinweis, dass die Leistungskurse traditionell ins nahe gelegene Dahlem führten, wo es feste Preisabsprachen gab. Aus dem Irak wurde genauso viel Unverständliches berichtet wie aus Afghanistan, Tschetschenien und dem Kosovo. Frau Smutek war gut gelaunt, sprach mit der Stimme eines kleinen Mädchens und krallte sich in sein Kopfhaar, wenn sie miteinander schliefen. Es war eine smaragdblaue Woche, überdacht von reglos aufgetürmten Himmeln. Eine Woche voll sanfter, folgenloser Irrtümer, ähnlich jenem über die Farbe von Smaragden oder die Anzahl von Himmeln.
    Morgens brachte Ada mit einem freundlichen Gruß Olafs aufgewühltes Kindergesicht zum Schweigen. Alev und sie wechselten keinen Blick, und niemand außer ihnen bemerkte, welche Innigkeit sich im gegenseitigen Desinteresse auszubreiten begann. Die Mutter ließ sie während einer nie dagewesenen Serie von aufeinander folgenden Tagen in Frieden. Am Donnerstagnachmittag saß Ada plötzlich auf der Couch im Proberaum, lauschte mit geschlossenen Augen den Ohren und kämpfte, ungewöhnlich genug, gegen Tränen, ohne sagen zu können, was so traurig war. Rocket fragte höflich, ob sie beim Abiturientenfest im Mai ein oder zwei Lieder singen wolle.

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