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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Zeitungsbeilage Prisma aufzuschlagen und das Mädchen der Woche zu betrachten, wie es, anständig bekleidet und mit bürgerlichem Lächeln, das Zitat der Woche präsentierte. Man muss ins Gelingen verliebt sein, nicht ins Scheitern. Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Wenn wir zu hoffen aufhören, kommt, was wir befürchten, bestimmt.
    Ada pflegte zu hoffen, durch intensives Starren in den hübschen, mageren Körper und den ebenso hübschen und mageren Verstand des Mädchens der Woche schlüpfen zu können und im nächsten Moment von unten aus der Zeitung herauszustarren. Nie hatte es geklappt. Auf den langen Vorhängen inszenierten die schwankenden Arme der Kastanie ein unverständliches Schattenspiel, die Tageszeiten wechselten einander ab, das Mädchen der Woche ließ sich nicht aus der zementierten Umklammerung des Magazins herauslösen. Ada wunderte sich, dass ihr der Esstisch nie in bösen Träumen erschienen war.
    Jetzt stand die Mutter auf, selbstverständlich und leicht, als hätte es nie ein Problem damit gegeben, sich von diesem Tisch zu erheben und einfach wegzugehen. Mit beschwingten Schritten lief sie voraus, die Treppe hinauf und ins Badezimmer.
    Halt die Pinzette ganz vorn, jetzt das Haar an der Wurzel packen, im rechten Winkel zur Stirn. Gemeinsam beugten sie sich über das Waschbecken und stießen mit den Nasen fast an die Oberfläche des Spiegels. Ein Ruck! Schnelligkeit schützt vor Schmerzen.
    Ja. Schnelligkeit schützte vor Schmerzen. Dankbar lächelte Ada die Mutter an, und diese lächelte zurück, froh, dass sie beide sich im Badezimmer wie normale Menschen verhielten. Schnelligkeit schützt. Der Satz kam wie bestellt. Vielleicht hatte Alev ihn geschickt. Vielleicht wusste er, wie man eine Welt errichtet, in der Sprache nicht wie ein gigantischer Spucknapf funktioniert, in den Milliarden von Menschen rotzen, um hinterher daraus saufen zu können. Vielleicht kannte er eine Welt, in der man intelligente Sätze im Mund wie Rauchringe formt, sie behutsam ausstößt und gemeinsam zusieht, wie sie um sich selbst wirbelnd zergehen. Eine solche Welt hatte Ada sich immer gewünscht.
    Das Zupfen ging leicht. Tränen wurden im Augenwinkel geboren, wuchsen und rannen über die Wange zum Kinn, wo sie einen Moment schwankend aushielten, bis sie fallen konnten. Was hatte Smutek gesagt? Sie waren tapfer bis zum Schluß / sie waren treu bis zum Schluß / sie glichen sich bis zum schluß / wie zwei tropfen / angehalten am rand des gesichts. Ada wusste wenig darüber. Sie hatte schon lange nicht mehr geweint.
    Als sie fertig war, sah sie verändert aus. Das Gesicht wirkte zarter, fast puppenhaft mit den dünnen, hochgewölbten Brauen, jünger und älter zugleich. Sie lief die Treppe hinunter, mit einem Mal fröhlich, um sich zu zeigen. Die Mutter saß am Tisch und las in der Prisma. Gut gemacht, steht dir.
    Eine innere Unruhe trieb Ada hinaus, das neue Gesicht wollte herumgetragen werden. Sie lief durch die Straßen des Viertels und himmelte Häuser an, die sie seit ihrer Kindheit kannte und nicht einmal genauer angesehen hatte. Die Häuser standen auf breiten Füßen, nichts würde sie wegtragen oder umkippen, und verzogen keine Miene, wer auch vorbeiging, obwohl sie die Gedanken jedes Passanten zu lesen vermochten. Geordnet war die Godesberger Welt. Jeder und jedes hatte seine Aufgabe. Die Häuser horchten, der Fluss trug auf seinen Rippen die ersten Strahlen des Mondlichts gen Norden. Die Autos hielten unter ihren Rädern die Erdrotation in Gang. Der Wind schmeichelte, das Laternenlicht summte. Der Anwalt im Erdgeschoss löste Fälle. Ada dachte über ihre eigene Aufgabe nach und dann über die der Mutter und erschrak. Es gab keine. Sie waren wie abgeschossene Pfeile, die ihr Ziel verfehlt hatten und im Unterholz liegen geblieben waren. Vielleicht war nun jemand vorbeigekommen, hatte Ada durch Zufall entdeckt und in den Köcher geschoben. Sie gierte danach, auf eine Sehne gespannt zu werden. Zu zielen. Zu fliegen.
    Als sie heimkam, saß der Igel auf dem Plattenweg. Ada legte die Jacke ab, um ihn damit aufzuheben, und trug ihn über den Bürgersteig, die Straße hinunter, suchte ihm den größten Garten hinter dem schönsten Haus, in Waldnähe, nicht weit zum Rhein, lief quer über fremden Rasen und setzte ihn sanft unter das dichteste aller Gebüsche. Weit weg vom Schneckengift.
    Ein, tapp, tapp, tapp, aus, tapp, tapp,
    tapp.
    Smaragdblau wird zu Saphirgrau
    D ie folgende Woche war kühl und

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