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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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ob er sie küssen oder beißen wollte, setzte sie aber nur in die Spur zurück und zwang sie zum Weitergehen.
    Du hast es auswendig gelernt, wie ich! Kluges Kleinchen. In der Cooperation verwenden sie ein komplizierteres Beispiel.
    Grundschulkinder auf kleinen Fahrrädern, Kindergartenkinder an den Händen ihrer Mütter. Kleine weiße Hunde an dünnen roten Leinen. Geplauder über gelb gewordene Hecken hinweg. Guten Morgen! Wie geht's? Es muss, nicht wahr, es muss.
    Alev kündigt für die kommende Woche einen Überraschungsbesuch bei Ada an.
    Erschrocken überlegte sie, wie ein Aufeinandertreffen zwischen ihm und der Mutter zu gestalten wäre, und war einen Moment abgelenkt. Hör mir zu!
    Die Woche geht von Samstag bis Samstag. Ada denkt: Wenn es Freitag wird und er ist noch nicht gekommen, dann kommt er gar nicht mehr, denn es bliebe nur der Samstag übrig, und das wäre kein überraschender Besuch.
    Erleichtertes Nicken, ein Schrittfehler, als ihnen eine schwarze Katze über die Füße flitzte.
    Wenn der Donnerstag ohne einen Besuch vergangen ist, könnte Alev nur noch am Freitag kommen, da Samstag, wie gesagt, nicht überraschend wäre, aber damit ist auch ein Überraschungsbesuch am Freitag nicht möglich, weil vorhersehbar. Wäre er bis Mittwochabend nicht gekommen, bliebe nur der Donnerstag, und auch das könnte keine Überraschung sein, wenn Freitag und Samstag ohnehin nicht in Frage kommen. Und so weiter. Ada gelangt zu der Überzeugung, dass überraschende Besuche innerhalb eines abgesteckten Zeitrahmens überhaupt nicht möglich sind.
    »Weggerechnet«, sagte sie. »Achilles und die Schildkröte.«
    Schräg blitzte ein verärgerter Blick aus geschlitztem Augenwinkel. Über Achilles konnte sie die richtige Antwort auf seine nächste Frage bereits gefunden haben und den Zaubertrick verderben. Also, was geschähe in Wirklichkeit?
    »Das weiß ich nicht.«
    Auf ihre Art war Ada ein gutmütiges Wesen. Sie erreichten die Hauptverkehrsstraße, auf der eingekapselte Menschen in Autos langsam hintereinander krochen. Der Gehweg wurde breiter, sie beschleunigten den Schritt, entspannt nebeneinander gehend, zufällige Berührungen weder erzwingend noch vermeidend.
    »Okay«, sagte Alev, »dann lies noch ein bisschen in dem Buch, wenn du magst!«
    Er strahlte sie an. Selbstverständlich wusste Ada, was in Wirklichkeit geschähe. Alev käme an einem Mittwoch oder Freitag oder Montag, wobei sein Besuch für Ada völlig überraschend wäre. Achilles überholt die Schildkröte mit einem einzigen Schritt, so wie das menschliche Gehirn ohne Mühe über sich selbst hinwegsteigt, sobald das Frühwarnmodul eine drohende Kollision mit der liegenden Acht meldet. Wieder einer der ungezählten Fehler im schlampig programmierten System Wirklichkeit, die sich am besten bewältigen lassen, indem man sie übersieht. Ada musste kein einziges Buch lesen, um zu wissen, dass sich Spiele genau wie das Leben nur in Gang halten ließen, sofern man bereit war, auf jede Art von Exaktheit zu verzichten.
    Als das Schulgebäude in Sicht geriet, hob Alev eine grüßende Hand.
    »Wir nehmen getrennte Eingänge.«
    »Alev.«
    Er blieb stehen. Im Film hätten sie sich jetzt lächelnd in die Augen geschaut und ein bisschen geschwiegen, bis das Lächeln vom Schweigen in einen merkwürdigen Ernst verwandelt worden wäre, über den sie die Augenlider gesenkt hätten, um die Münder einander nähern zu können. Sie hätten sich geküsst, vorsichtig erst, die Lippen wie weiche Stempelkissen gegeneinander gedrückt, dann derber, Zunge und Zähne als Waffen in einen unblutigen Kampf führend. Es wäre Adas erster richtiger Kuss geworden und somit ein Ereignis, von dem gern behauptet wird, es bleibe bis ans Ende aller Tage im Gedächtnis, auch wenn sich in Wahrheit niemand daran erinnern kann.
    Aber das geschah nicht. Ada blickte durch Alev hindurch auf die Backsteinwand am Seitenflügel von Ernst-Bloch.
    »Willst du mit mir spielen?«
    Die Frage machte ihm nichts aus, im Gegenteil, sie gefiel ihm.
    »Das ist besser, als du selber glaubst. Wenn, dann will ich MIT dir spielen, nicht gegen dich. Sonst hätte ich dir das Buch nicht gegeben.«
    »Vielleicht gabst du es mir gerade deswegen. Um einen Gegner zu generieren. Künstliche Intelligenz.«
    Es sollte ein Scherz sein. Niemand lachte.
    »Möglich, aber nicht wahrscheinlich.«
    Er entfernte sich schnell, schlug einen Bogen über den Parkplatz und näherte sich dem Gebäude von der anderen Straßenseite. Ada

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