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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Armaturen und Herrn Smuteks rechte Schulter ergoss, kaum dass die Schale knackend auseinander gebrochen war. Stückchen und Saft rannen an den Innenseiten der Scheiben herab. Mit Smutek verfuhr sie auf gleiche Weise, entfernte, um Platz zu schaffen, verbliebene Haut und Muskelstränge vom Rumpf und setzte die Köpfe ihrer wirklichen Eltern an die frei gewordenen Stellen. Die Mutter sah streng nach vorn, die schwarze Pagenfrisur wirkte wie festgegipst neben dem angegrauten Haupt des Brigadegenerals, das sanft im Takt einer geistreichen Rede wippte. Weil Ada beim imaginären Anblick der elterlichen Hinterköpfe nicht mehr empfand als zuvor, schlug sie auch diese vom Hals und ließ das Ehepaar Smutek in Frieden ihr Familienauto steuern.
    Now I will tell you what I've done for you. 50thousand tears I've cried.
    Während der Unterrichtsstunden auf Ernst-Bloch pflegte Ada gelegentlich mit ihrem Bihänder die Reihen von Schülern abzugehen und jeden von ihnen auf gleiche Weise zu enthaupten wie ein Gärtner beim Abernten einer Plantage. Der Gedanke daran, was die Psychologen, Ministerialbeamten und Journalisten zu sagen gehabt hätten, wenn ihnen eine solche Phantasie zu Ohren gekommen wäre, brachte sie zum Lächeln: ERFURT.
    Ada hatte noch nie Counterstrike gespielt und schaute, seit sie zu alt für die Sendung mit der Maus geworden war, kaum noch fern. Sie fühlte sich nicht verrückt. Sie fühlte sich auch nicht übermäßig normal, was bei weitem verdächtiger gewesen wäre.
    Obwohl sie seit der Schlagringepisode meinte, grundsätzlich zu fast allem in der Lage zu sein, plante sie nicht, eines Tages im wirklichen Leben Köpfe von Rümpfen zu trennen. Nach dem Erfurter Massaker hatte sie wochenlang unter dem Empfinden gelitten, eine Wahrheit zu kennen, die außer ihr niemand begriff. Die Tatsache, dass ihr keine Zeitungsspalten, kein TV-Sendeplatz und keine Zwanzig-Sekunden-Fenster in den Radionachrichten zur Verfügung standen, legte sich wie Klebeband über den Mund. Sie tröstete sich damit, dass der überwältigende Teil der Menschheit keine Sprechzeit besaß. Sprechzeit gab es nur für jene, die auf egal welches Ereignis die immer gleichen Antworten parat hatten: Wir sind geschockt und tief betroffen und hoffen, dass die Regierung etwas unternimmt.
    So blieb die Wahrheit ungehört. Es blieb ungesagt, dass die Nation Grund zur Freude hatte. Dass es Anlass gab für republikweiten Jubel und die Einrichtung eines Nationalfeiertags, weil sich Amokläufer wie jener aus Erfurt nicht viel häufiger durch die Welt frästen. Trotz der Rattenenge, in der man in diesem Land zu vegetieren hatte, trotz PH-neutraler Pädagogen, die selbst keinen der Werte in sich bewahrten, die zu vermitteln einst ihr Auftrag gewesen war, trotz des ewigen Missverständnisses zwischen Liberalismus und Indifferenz, trotz einer Bevölkerung, deren Hauptanliegen darin bestand, sich selbst auf die Nerven zu gehen, lebte man tagein, tagaus in relativem Frieden zusammen. Niemand bedankte sich dafür. Ada drückte sich tiefer in den Sitz, die Körperwärme baute einen bequemen Schlafsack um sie herum.
    Das Behagen wurde von der Frage gestört, ob und wie sie im Schullandheim Gelegenheit zum Laufen finden würde. Zusammengesperrt mit so vielen anderen Menschen, galt es den Abstand umso aufmerksamer zu wahren und das Pensum täglichen Davonlaufens pfleglich zu verwalten, wenn sie keinen Ärger wollte.
    Don't want your hand this time, I'll save myself.
    Um sich abzulenken, schnallte sie ein handliches Messer ans Bein, ging mit Alev in die Stadt und geriet zufällig vor einem Geldinstitut in den letzten Akt einer scheiternden Geiselnahme, die sie durch einen waghalsigen, aller Vernunft spottenden Angriff zu einem glücklichen Ende brachte. Weil es besser als erwartet funktionierte, spielte sie die Szene noch zweimal ab und bereicherte das Bühnenbild um immer neue Details, bis sie beim dritten Mal aufgrund der erstaunlichen Hitze ein knappes Hemdchen trug, das ihre kräftigen Arme und Schultern den bewundernden Blicken der Anwesenden aussetzte. Nachdem sie gerade den dramaturgisch ausschlaggebenden Satz ausgerufen hatte: Come on guys, I'm a moving target!, bemerkte sie, dass Smutek den Innenspiegel heruntergeklappt hatte und ihr über Bande Blicke zuspielte. Ein digitales Thermometer in der Armatur maß die Temperatur der Straßenoberfläche, rot flackerte die Anzeige zwischen null und einem Grad. Frau Smutek schlief an die Scheibe des Beifahrerfensters

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