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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Erkenntnisbemühungen!«
    Die Streber taten wie geheißen, die hinteren Reihen lösten sich auf und schnürten in die Wiese. Irgendwo knutschten zwei Milchgesichter. Smutek lachte spöttisch und entließ mit einer Armbewegung den Rest.
    »So feiert die exakteste unter den Geisteswissenschaften ihre eng gesteckten Grenzen«, sagte er und beobachtete amüsiert seinen Kollegen, der sich mürrisch über die Felswand beugte wie ein Chirurg über den toten Patienten.
    »Wir Historiker«, sagte Höfi, als sie sich wieder in Bewegung setzten, »sind euch Sprach-Heinis durchaus verwandt. Wir sind die Germanisten des Weltgeschehens.« Die folgende Kunstpause gab den Zuhörern Zeit, seinen Ausspruch für eine Aphorismensammlung zu notieren. »Spotte nicht über meine Probleme mit der Wirklichkeit! Die Geisteswissenschaftler tun nichts anderes, als Geschriebenes zu lesen und in neues Geschriebenes zu verwandeln. Um historisch zu sein, muss ein Ereignis der Vergangenheit angehören. Wenn es vergangen ist, können wir nicht beiwohnen, sind also zwangsläufig auf Überlieferung angewiesen. Wir sind Verwalter der ewigen Flüsterpost. Unser Werkzeug ist die Sophistikation.«
    »Dann wäre das historische Ereignis ein Oxymoron?«
    »So ist es. Etwas kann entweder ein Ereignis oder historisch sein.«
    »Eine nette Gedankenspielerei.«
    Sie lachten sich an. Höfi kippte wie eine Eule den Kopf, um den hochgeschossenen Smutek anzuschauen, und klopfte ihm väterlich ins Kreuz. Ihre Schuhe waren mit jedem Schritt schwerer geworden vom Matsch, der an den Sohlen kleben blieb, und nun hoben sie beim Gehen die Knie wie Kaltblutpferde.
    »Smutek, mein naiver Freund«, fuhr Höfi fort, »vor zwanzig Jahren hat man dich wegen einer Namensverwechslung ins Gefängnis geworfen. Du bist kein Opfer deiner Zeit, nicht des Kommunismus, nicht Jaruzelskis, nicht der Solidarnosc, sondern eines Irrtums. Auch deine Geschichte besteht aus dem, was andere Leute über vermeintlich Geschehenes erzählen. Genau wie die Politik ist sie nichts anderes als das Sprechen über eine angebliche Wirklichkeit.«
    »Da kenne ich jemanden, der das anders sieht.«
    Weil Smutek die Stimme gesenkt hatte, rückte Ada ein paar Schritte näher, bis sie den beiden Männern fast in die Fersen trat. Frau Smutek, die ein Stück vor ihnen ging, schaute wie ein Pferd aus dem Augenwinkel hinter sich, zeigte ihr edles Profil und verriet dabei, dass auch sie nicht mit der durchnässten Landschaft, sondern mit Zuhören beschäftigt war.
    »Das sehen all jene anders, die sich als Opfer der Geschichte betrachten«, sagte Höfi laut genug, dass es im Umkreis von zwanzig Metern zu hören war. »Mit der Geschichte kann man nicht abrechnen, sie ist weder Ereignis noch Person. Wer in einer solchen Historie den ärgsten Feind vermutet, kann sein Leben in milder, retrospektiver Paranoia zubringen und wird dort alles finden, was er braucht, vor allem das lebensnotwendige Maß an Angst und Eigenliebe. Nur keinen Wirklichkeitssinn und sicher kein Glück.«
    Höfis Arm war dünn und hart in Smuteks Sportlerpranke, die fest zugriff, als wollte sie ihn wie einen Knüppel gegen seinen Besitzer schwingen. Kein Zeichen von Schmerz oder Bedrängnis war auf Höfis Gesicht zu erkennen. Smuteks nächste Worte waren weniger zu Höfi als für seine lauschende Frau gesprochen.
    »Hältst du es für legitim, das Resultat einer abstrakten Erwägung zum Maßstab für die Aburteilung deiner Mitmenschen zu machen?«
    »Aburteilung!« Höfis Lachen steigerte sich wie ein Musikstück vor dem Finale. »Nach dem demokratischen Verständnis muss der Maßstab jeder Aburteilung abstrakt sein. Das folgt aus dem Verbot von Einzelfallgesetzen. Anders gesagt: Wozu sollte das Abstrakte uns dienen, wenn nicht als Maßstab für Aburteilungen?«
    Irgendein Faden war Smutek verloren gegangen. Höfi reihte Sätze aneinander, von denen jeder einzelne ins Schwarze zu treffen schien, die aber, zusammengenommen, nur ein buntes Muster ergaben, das der Welt nicht ähnlicher sah als ein abstraktes Gemälde den Gegenständen, die es darzustellen behauptete. Im Geheimen hatte Höfi dieses Verfahren >Kaleido-sophismus< getauft. Er drehte ein Rädchen, und alles, was er von sich gegeben hatte, ordnete sich zu neuen Ornamenten. Die Methode half ihm dabei, am widersprüchlichen Zusammenhängen von allem mit allem nicht verrückt zu werden.
    Weil Smutek nichts weiter zu sagen wusste, zog er sich auf die Rolle eines harmlosen Wanderers zurück, der

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