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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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senkrecht stand.
    »Können Sie das?« Sie legte einen Arm über den Scheitel, so dass die rechte Hand das linke Ohr bedeckte. Als der halslose Höfi es ihr nachtat, spreizten sich die Jackettschöße und gaben ein Stück karierten Oberhemds frei. Für einen Moment schaute sein Gesicht verzweifelt aus den umliegenden Körper- und Kleidungsteilen heraus wie ein Weißkohl aus dem Topf.
    »Das kann doch jeder«, sagte er.
    »Wenn man es mit fünf Jahren schon kann, wird man vorzeitig eingeschult. Ob man gleichzeitig schon das Lesen und Schreiben beherrscht, ist demgegenüber von untergeordneter Bedeutung. Hauptsache, man erreicht das Ohr.«
    »Frühreif und stolz darauf?«
    »Sie bringen es auf den Punkt.«
    »Und man hat dem schlauen kleinen Mädchen nicht beigebracht, dass nicht alle anderen Kinder blöd sind?«
    »Man hat mir beigebracht, dass es ganz wenige Ausnahmen gibt.«
    Mit ein wenig zu weit geöffneten Augen schaute sie an ihm vorbei, bis er sich umwandte, um ihrem Blick zu folgen. Seiner Miene war anzumerken, dass ihm das Verstehen wie mit Stricknadeln ins Hirn drang. Am Rand der Aussichtsplattform, genau an der Stelle, wo Höfi sich bei vergangenen Klassenfahrten aufgebaut hatte, um auf belgische und luxemburgische Baumwipfel zu zeigen und über den Zweiten Weltkrieg zu sprechen, stand Alev zwischen drei hochgeschossenen Jünglingen lässig an eine Messingplatte gelehnt, auf der eine Windrose die Lage von Blankenheim, Prüm, Malmedy und Verviers angab. Zwischen Mittel- und Ringfinger seiner rechten Hand rauchte eine vergessene Zigarette sich selbst. Seinen Zuhörern hingen die Kippenstummel schlaff von den Unterlippen, sie hatten die Hände in den geräumigen Taschen ihrer Hosen verstaut, und der Wind trieb ihnen die Slacker-Frisuren dekorativ von einer Seite zur anderen. Alev, so klein er war, stand fest und gerade wie ein Baum auf zwei Stämmen. Seine Schultern würden die Weltkugel mühelos tragen, ohne dass er bereit war, das Rückgrat dafür zu beugen. Mit seiner entspannten Haltung, in beigefarbener Anzughose und Lederschuhen, die trotz matschiger Wege noch einigermaßen schwarz waren, hätte er an viele Orte gepasst, in den Eingangstempel einer New Yorker Brokerfirma, auf die Flure eines Parlaments, neben ein Fußballfeld, an die Bar eines Spielcasinos, zwischen die Metallschränke einer Universitätsbibliothek. Er sprach vor seinen Aposteln wie ein Miniaturpriester vor übergroßen Schafen. Wahrscheinlich ging es um den Zweiten Weltkrieg.
    Steif wandte Höfi sich wieder Ada zu. Als er den Arm ausstreckte, um ihr die Hand in den Nacken zu legen, etwa an die Stelle, wohin er sie eben noch geschlagen hatte, senkte sie die Stirn und ließ es geschehen, wodurch die unbeholfene Geste etwas von einer Segnung bekam.
    »Du stehst im Bann unserer männlichen Sphinx«, knurrte er. »Armes Kind. Du komische, kombustible, verlorene Seele. Wäre ich dein Vater, ich hätte dich in der Badewanne ertränkt, als noch Zeit dazu war.«
    Mit einem strahlenden Lächeln schickte Ada ihr eigenes Gesicht in die Kindheit zurück. Ein schöneres Kompliment hätte er ihr nicht machen können, auch wenn sie aus dem Stehgreif nicht darauf kam, was >kombustibel< bedeuten mochte.
    Von diesem Moment an unternahmen Smutek und Höfi nichts mehr gegen ihre Anwesenheit. Ada versuchte nicht, sich am Gespräch zu beteiligen, achtete nur darauf, nicht abgehängt zu werden, und genoss es, wie im Windschatten der beiden Männer das aufreibende Gefühl für Alevs Gegenwart verblasste. Ihre Erleichterung erhöhte den Sauerstoffgehalt der Luft. Es bestand Hoffnung, die verbleibenden siebzig Stunden Landschulheim ohne irreversible Kollateralschäden zu überstehen.
    Auf einer Waldlichtung, in deren Mitte ein gigantischer Felsbrocken lag, hielt die Gruppe an. Alev preschte vor und warf sich zu Boden, um sich vor der schwarzen Felsmasse zu verneigen. Danach stand er lachend zwischen den anderen, und die beige Hose trug einen kreisrunden, nassen Grasfleck auf jedem Knie. Die Gruppe sah zu, wie Höfi sich verrenkte, um unter Jackett und Pullover einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Hemds zutage zu fördern, mit dessen Spitze er in der Moosschicht auf dem Gestein zu kratzen begann.
    »Niemand«, rief Höfi mit Feldherrenstimme, »hat je herausgefunden, woher dieser Brocken stammt und wie er auf die Lichtung gekommen ist. Kommt her und fasst das Ding an, ihr müsstet euch ihm verwandt fühlen: Ein hartnäckiger Widerstand gegen alle

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