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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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erkannt habe, dass er sich aufgrund großer Empfänglichkeit für die Anziehungskraft der Macht nicht zum Atheisten eigne, sei eine neue Vermutung in ihm aufgekeimt. Wenn es einen Gott geben sollte, den Alev nicht im Himmel über seinem Kopf, nicht in der Erde unter seinen Füßen oder im Verstand zwischen seinen Ohren aufspüren konnte, musste er es wohl selber sein. Das sei der genügsamste Gottesbeweis, den er je gehört habe, und auch das Ergebnis entspreche seinem Geschmack. Älter werdend, habe er an den Reaktionen seiner Mitmenschen erkennen können, dass er nicht Gott, sondern den Teufel verkörpere, und dies sei seit einiger Zeit auch viel eher dernier cri.
    Höfi war ein geübter Denker, der seinen Skeptizismus gleichmäßig auf Wahrscheinliches und Unwahrscheinliches verteilte und deshalb Allgemeinplätze ebenso wie haarsträubende Behauptungen nach Belieben glauben oder bezweifeln konnte. Am meisten interessierte ihn die Frage, ob der Errichter einer schwungvoll gezogenen Kampflinie diese auch zu halten vermochte.
    »Wenn du Gott wärest«, sagte er zu Alev, »müsstest du allwissend sein. Deine Schulnoten sprechen dagegen.«
    »Danke für Ihre Bemühung, sich auf die natürliche Dummheit eines Schülers einzustellen. Aber ich meinte nicht den Gott aus der Kinderbibel.«
    »Was dann?«
    »Ein Teil von etwas, das jener Vorstellung nahe kommt, die von den Menschen >Gott< oder >Satan< genannt wird.«
    »Gut. In welchem Jahr wurde Stalin geboren?«
    »Einen Moment. Allwissend zu sein bedeutet nicht, ein riesiges Archiv aus Fakten und Faktenbruchteilen im Hirn zu tragen. Es bedeutet zu wissen, wo der Karteikasten steht.«
    »Du müsstest am Schöpfungsakt beteiligt gewesen sein.«
    »Glauben Sie etwa, dass eine Frau, die Pullover strickt, hinterher die genaue Lage, Farbe und Beschaffenheit jeder einzelnen Masche bestimmen kann?«
    »Auf die Gefahr hin, dass du meine Unbefangenheit erneut mit getarnter Arroganz verwechselst - das Göttliche oder Teuflische habe ich mir anders vorgestellt. Nicht dass ich an weiße Bärte und Pferdefüße glauben würde. Aber noch viel weniger glaube ich an dich.«
    »Das ist auch nicht nötig. Gott und der Teufel sind es gewöhnt, dass man nicht an sie glaubt. Ihre Bemerkungen scheinen mir keine Kinder des Scharfsinns zu sein.«
    »Gut erkannt«, lachte Höfi, »es waren eher gedankliche Adop-tivtöchter.«
    »Warum, frage ich Sie«, fuhr Alev fort, »kann sich die Menschheit das Göttliche in Form eines Stiers, eines Schwans, eines blitzeschleudernden Exzentrikers, einer Wasserhose oder eines Dornbuschs vorstellen, warum bereitet es ihr keine Schwierigkeiten zu glauben, dass das Göttliche alkoholische Getränke aus reinem Wasser braut, Brot vom Himmel wirft und in albernen Wendungen zu beliebigen Auserwählten spricht, während sie das Auftreten von etwas Göttlichem in gewöhnlicher Gestalt für absolut ausgeschlossen hält?«
    »Vielleicht ist es die Eloquenz, die dich eines Tages zu dem machen wird, was du heute zu sein vorgibst. Ein Vorschlag zur Güte: Ich gebe dir insoweit recht, als du genau wie die Armeen von Göttern vor dir von der Nichtbeweisbarkeit göttlicher Existenz profitierst. Und damit lassen wir es gut sein. Einverstanden?«
    »Prinzipiell ja. Dem steht im Wege, dass ich noch etwas sagen will.«
    »Nur zu.«
    Höfi leerte das zweite Glas Wein und unterdrückte ein Gähnen. Es war nicht zu übersehen, dass er Alevs Ausführungen amüsant fand und sich freute, dem Verstand eines Schülers zuzusehen, wie er sich auf verschlungenen Pfaden durchs Dickicht schlug. Ebenso wenig aber war zu übersehen, dass er die geistige Augenhöhe seines Gegenübers im Bereich der eigenen Kniescheiben veranschlagte.
    »In den letzten Wochen haben Sie sich sehr über dieses Mädchen gewundert.« Alev zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Ada wie ein Ankläger, und sein Zeigefinger berührte fast ihr Gesicht, weil sie zu dritt nah beisammensaßen. »Niemand wird mit ihr fertig. Auch sie ist ein Teil der aktuellen Fassung vom Göttlichen und Teuflischen. Nicht wahr, Ada?«
    Sie war erschrocken, nicht vom plötzlichen Ritterschlag zum übersinnlichen Wesen, sondern von der Tatsache, dass Alev sie nach Wochen des Schweigens zum ersten Mal angesprochen hatte.
    »Also, was ist«, fragte Höfi, »verkörperst du ein göttliches oder satanisches Prinzip?«
    Es gab keinen Ausweg, wenn sie nicht den Anschein erwecken wollte, ihre Schlagfertigkeit vollständig verloren zu haben. Das Sprechen

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