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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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ganz im Naturerlebnis aufzugehen wünscht. Dicht hinter ihnen war Adas beschleunigter Atem zu hören, der anzeigte, dass sie dringend auf eine Fortsetzung des Gesprächs wartete, während Frau Smutek den Schritt beschleunigt hatte, allerdings nicht genug, um außer Hörweite zu geraten.
    »Tröste dich, tapferer Pole«, keuchte Höfi, nachdem er ein paar quer über den Weg verlaufende Wurzeln überwunden hatte, »die gerechte Strafe für alle Spitzfindigkeiten wird uns zuteil. Die Geisteswissenschaft stirbt aus und wir mit ihr.«
    Wieder nahm Smutek ihn am Arm, diesmal sanft, um ihm über die nächste Wurzelstrecke hinwegzuhelfen. Die folgenden Sätze, davon war er überzeugt, würden seine naturwissenschaftlich veranlagte Gattin besänftigen.
    »In unserer spezialisierten Gesellschaft ist für den Weltgeist kein Platz. Der Polyhistor klingt heute nach einem Scheuermittel, und das Denken an sich gilt nicht mehr als Tugend, sondern als Zeitverschwendung. Es wird von spezialisierten Experten erledigt, und seit das so ist, erkennen wir die Philosophie in ihrer ganzen Nutzlosigkeit. Seien wir ehrlich, mein bester Deutschlehrer: Welchen Wert kann egal welche Wissenschaft haben, die sich nur auf Sprache stützt, sich aus Sprache speist, Sprache verdaut, Sprache hervorbringt und dabei nichts als Sprache ist? Was soll dabei herauskommen, Selbsterkenntnis? Intellektueller Inzest? L'art pour l'art? Oder ein Lügengebäude, in dem alles wahr ist, solange man es nicht verlässt? Ist eine solche Wissenschaft nicht vor allem eins: überflüssig?«
    »Du meinst: seit Erfindung der Dampfmaschine.«
    Die Ironie machte Smuteks Körpergröße für einen Augenblick zur zwingenden Folge seiner Überlegenheit. Was ihn innerlich zu den äußeren ein Meter zweiundneunzig heranwachsen ließ, war seine Abneigung gegen professionellen Kulturpessimismus. Überhaupt hielt er Pessimismus entweder für Sünde oder für ein Zeichen von Dummheit, je nachdem, wen er vor sich hatte.
    »So genau will ich es gar nicht wissen«, sagte Höfi. »Am Anfang war das Wort, am Ende das Ding. Glaub nicht, dass wir ungeschoren davonkommen, glaub nicht an die mitleidigen Kommissionsgründungen zur ethischen Begleitung politischer Fragen. Die einzige Geisteslehre mit Daseinsberechtigung ist heute die Rechtswissenschaft. Sie wird uns alle überleben.«
    »Das gefällt mir!«, rief Ada von hinten. »Ein schöner Schlachtruf. Viva iudex!«
    »Willst du später Jura studieren?«, fragte Smutek höflich, ohne sich umzudrehen.
    »Nein«, sagte Ada mit nachgeäffter Kleinmädchenstimme, »wenn ich groß bin, werde ich Völkermörder. Dann bin ich Naturwissenschaftler und habe trotzdem eine moralische Berufung. Ich werde mich auf ethische Säuberungen spezialisieren.«
    Sie war weggelaufen, an Frau Smutek vorbei, und ließ sich von den Schlangenlinien des Wegs im Wald verstecken, bevor einer der Männer sie zur Rechenschaft ziehen konnte. Schweigend gingen sie weiter. Nun war es die stumme Zuhörerin gewesen, die das Gespräch beendet und dadurch allem Gesagten einen adafarbenen Ton verliehen hatte. Zurück blieb das beschämende Gefühl, Rede und Widerrede nur für sie geführt, die ganze Settembrini-Castorp-Nummer für die Ohren eines Kükens inszeniert zu haben. Auf dem gesamten Rest des Weges wollte ihnen keine Bemerkung über die Farbe des Himmels oder die Struktur des Waldes einfallen, mit der sie sich aus den Tiefen ihres vorwinterlichen Schweigens zurück an die Oberfläche hätten heben können.
    Sie erreichten die Herberge als Letzte, die Schüler waren längst im Gebäude verschwunden. Nacht hatte das Gelände erfasst und verwandelte Baum, Strauch und Haus in Körperteile eines einzigen, dunklen, langsam atmenden Wesens. Die Temperatur schien von Minute zu Minute zu fallen und hüllte die Köpfe in üppige Dampfwolken. Als nur noch Höfi damit beschäftigt war, seine Schuhsohlen über die Fußmatte zu bürsten, tippte Ada ihm plötzlich von hinten an die Schulter. Sie hatte hinter der Hausecke gewartet.
    »Warum haben Sie Ihre Frau nicht mitgebracht? Die schöne Frau Smutek ist doch auch mit von der Partie.«
    »Die schöne Frau Smutek habe ich bereits bemerkt.«
    »Wo ist die Ihre?«
    »Sie sitzt zu Hause.«
    »Das finden Sie nicht ungerecht?«
    »Gewiss. Sehr sogar.«
    »Abgesehen davon, dass Ungerechtigkeit zu Ihrer bevorzugten Geisteshaltung gehört - hätte es nicht Gründe gegeben, Ihre Frau mitzubringen?«
    »Es wäre ein unverhältnismäßiger Aufwand

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