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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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gewesen.«
    Endlich drehte Höfi sich um. Einen Moment lang sahen sie sich wie Duellanten in die Augen.
    »Warum?«
    Er zeigte nicht die geringste Regung.
    »Sie sitzt im Rollstuhl. Multiple Sklerose.«
    Einmütig dachten sie an ihr kurzes Wortgefecht, seit dem fast ein halbes Jahr vergangen war. Lieben Sie Ihre Gemahlin? Gewiss, sogar sehr. Haben Sie jemals darüber nachgedacht, dass Sie diese Frau ebenso gut hassen könnten? Nein, habe ich nicht.
    »Es tut mir leid«, sagte Ada und meinte ihre Bemerkungen von damals.
    »Nein«, sagte Höfi, der verstand, worauf sie sich bezog.
    »Versuch es vielleicht doch noch mal mit den anderen Kindern.«
    Er verschwand im Haus, fand Smutek an der Garderobe und schlug ihm im Vorbeigehen mit erhobenem Arm zwischen die Schulterblätter, dass der breite Rücken, ganz Resonanzkörper, wie ein Schlaginstrument dröhnte.
    Ein schmaler Grat
    A m Abend glaubte Ada, ihn endlich für sich allein zu haben. Im Speisesaal war ihr der Platz neben Höfi kampflos überlassen worden, die Mahlzeit ging schnell zu Ende, es wurde noch eine Weile geplaudert, im Hintergrund spielte eine Musikanlage, und irgendwann setzte Johanna sich auf einen Tisch und sang so schön zur Musik von Billy Joel, dass Ada ihr Herz wie einen Gegenstand unter den Rippen spürte. Honesty is just a lonely word. Dann verschwanden alle auf ihre Zimmer, und sie blieben einfach sitzen.
    Schon während des Desserts hatte Höfi angefangen, über Werteverlust und transzendentale Obdachlosigkeit zu reden und dabei ständig auf seinen Teller geschaut, als ob es ihm gleichgültig wäre, ob jemand zuhörte oder nicht. Ada ließ ihn reden und wartete geduldig ab, worauf er hinauswollte. Ihre Meinung zum Thema, die so knapp war, dass sie in wenigen Worten Platz fand, hatte sie gleich zu Anfang geäußert. Das menschliche Bedürfnis nach Transzendenz sei eine feststehende Größe, ähnlich dem Hunger, der täglich nach einer bestimmten Kalorienmenge verlange. Wenn dieses Bedürfnis nicht befriedigt werde, laufe die menschliche Seele bettelnd durchs Land -leichte Beute für jeden Rattenfänger.
    Was denn eine Seele sei, hatte Höfi gefragt und zur Antwort erhalten, die Seele sei jenes Streben im Menschen, das partout an einen Gott glauben wolle. Sie selbst, Ada, könne wenig darüber sagen, da sie etwas Derartiges nicht besitze.
    Höfi verzog den Mund zu einem Das-dachte-ich-mir-Lächeln, fuhr fort, seine verzwickten Sätze zu spinnen, und wirkte dabei wie ein kreativer Vogel, der auf einem Ast vor sich hin zwitschert, ohne eine seiner Melodien ein zweites Mal wiederholen zu müssen. Ada genoss es, die Ellenbogen auf den Tisch zu stützen, mit dem Löffel auf abgegessenen Tellern herumzustochern und einem Menschen zuzuhören, dessen Intelligenz sie ebenso hoch schätzte wie die eigene. Der Gedanke an Alev entfernte sich wie ein nachlassender Schmerz aus Herz und Hirn, Alev selbst schrumpfte auf Normalformat zusammen und wurde zum gewöhnlichen Teilnehmer einer Kursfahrt, auf der es wie immer darum ging, wer sich für wen auf welche Weise interessierte.
    Bis er den Speisesaal betrat. Er trug eine geöffnete Flasche und drei Weingläser unter dem Arm, die er sich nur durch schnell geknüpfte Beziehungen zum Küchenpersonal verschafft haben konnte, stellte alles auf den Tisch und setzte sich. Offensichtlich hatte er gewusst, dass sie hier beisammenhockten.
    »So eine Plörre trink ich doch gar nicht«, rief Höfi, füllte sein Glas und hob es im Triumph. Er machte keine Anstalten, Ada mit ihren gerade mal fünfzehn Jahren am Rotweintrinken zu hindern. Erstaunt saß diese einem breiten Lachen gegenüber, das von gelungenen Streichen kündete, und fragte sich, ob Höfis hypnotisierendes Gezwitscher allein dem Zweck gegolten haben mochte, sie am Tisch festzuhalten. Es dauerte einige Minuten, bis sie wieder in der Lage war, dem Gespräch zu folgen.
    Vom Werteverlust kamen sie zur Religion. Alev hatte seinen Tonfall in bescheidene Tücher gekleidet, die nur bei schnellen rhetorischen Bewegungen das darunter verborgene Kettenhemd sehen ließen. Er saß leicht vorgebeugt, um den buckligen Geschichtslehrer von unten anschauen zu können.
    Ihm sei es stets unmöglich gewesen, sich einer Konfession anzuschließen. In seiner Familie werde beinahe jede denkbare Religion gepflegt, die meisten von seiner Mutter. Seinen Beobachtungen nach profitiere niemand vom Glauben, weder in spiritueller noch in materieller oder intellektueller Hinsicht. Nachdem er

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